TANGRAM 37

Teil der Landeskultur statt «exotische Randnote»

Jenische, Sinti und Roma leiden nach wie vor an ererbten Schulängsten

Autor

Venanz Nobel ist Historiker, Schriftsteller und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR.
venanz.nobel@balcab.ch

Jedes Schulkind sollte die Schweiz in all ihren Facetten vermittelt erhalten. Doch in welchem Schulbuch kommen Jenische, Sinti und Roma vor? Zwar sind in den letzten Jahren einige Lehrmaterialien erarbeitet worden. Doch das Ziel einer diskriminierungsfreien Schule ist damit noch lange nicht erreicht.

Der erste moderne Intelligenztest wurde 1904 von den französischen Psychologen Alfred Binet (1857–1911) und Theodore Simon (1873–1961) entwickelt. In der Wissenschaft, insbesondere im Bereich der Psychologie, der Soziologie und der Pädagogik, werden diese Tests immer wieder kontrovers diskutiert, manchmal grundsätzlich in Frage gestellt, oft überarbeitet. Doch auch Tests, die versuchen, soziale oder kulturelle Diskriminierung auszuschalten, werden in aller Regel eben von Wissenschaftlern erarbeitet, die aus andern Schichten oder Kulturen stammen. Die Wertefreiheit ist ein hehres Ziel, das wohl nie wirklich erreicht werden kann. Erst wenn man sich dies eingesteht, eröffnet sich die Chance, in verschiedenen Kulturkreisen unabhängig von der Geschichte der Intelligenztests entstehende, kultureigene Tests gleichwertig nebeneinander stehen zu lassen oder gar zuzugestehen, dass sich vielleicht ein Kulturkreis dieser Art von Wettbewerb ganz verweigert. Eine Verweigerungshaltung kann viele, zum Beispiel religiöse, Gründe haben. Bei Gruppen der Jenischen, Sinti und Roma ist zumindest eine Reserviertheit bis hin zur Verweigerung zu beobachten. Dem liegen in erster Linie leidensgeschichtliche Erfahrungen der Minderheiten zugrunde. 1916 postulierte Lewis Terman, Intelligenztests dienten dazu, «letztendlich die Fortpflanzung von Schwachsinn deutlich einzuschränken und dadurch zur Beseitigung eines hohen Masses an Kriminalität, Massenarmut und Ineffizienz in der Industrie beitragen zu können» (Myers).

Generationenübergreifende Spätfolgen

Viele Pioniere der Intelligenzforschung waren Eugeniker, so zum Beispiel Galton, Spearman, Burt und Cattell. Jenische, Sinti, Roma mussten diese Texte und Weltbilder nicht kennen: Die Geisteshaltung ihrer Väter erlitten sie am eigenen Leib, als «Kinder der Landstrasse», als Sterilisations- oder Euthanasie-Opfer des Nationalsozialismus. Generationenübergreifende Spätfolgen dürfen nicht ausgeblendet werden, wenn die Beschulung ihrer Kinder heutzutage thematisiert wird. Die Jahrzahl 1973, das Ende von «Kinder der Landstrasse», ist den Jenischen zweifellos geläufiger als dem Durchschnittsschweizer das Datum der Schlacht am Morgarten.

Eine Gruppe von Lehrer/innen half mit ihrem Boykott des Pro Juventute-Briefmarken-Verkaufs tatkräftig mit, ein Umdenken einzuläuten und die Pro Juventute an den Verhandlungstisch mit den Jenischen zu zwingen. Seit den 1980er-Jahren werden immer wieder Jenische eingeladen, an Schulen aller Stufen Vorträge über ihre Minderheit, ihre Kultur und Geschichte zu halten. Von der Oberstufe bis zu Fachhochschulen werden Thementage, Seminare, Schwerpunktwochen abgehalten. Doch wenn man sich vor Augen führt, dass es in der Schweiz über 8000 Bildungsinstitutionen mit mehr als 1,3 Millionen Lernenden gibt, wird die Kritik nachvollziehbar, dass all das ein Tropfen auf den heissen Stein sei. Jenische forderten im Übrigen schon in den 1980er-Jahren, die Geschichte der Jenischen und der «Kinder der Landstrasse» gehöre in die Geschichtsbücher.

Abhandlung im Geschichtsbuch reicht nicht

Gleichzeitig mit dem Erstarken des kollektiven Selbstbewusstseins und der kulturellen Identität der Jenischen, Sinti und Roma verstärkten sich gesamtgesellschaftlich auch das Bewusstsein sowie die Rahmenbedingungen des Minderheitenschutzes und des Rechts auf ein diskriminierungsfreies Leben. Je mehr sich die Exponenten der Minderheiten mit diesen Themen auseinandersetzten, desto klarer wurde für sie, dass auch eine Abhandlung im Geschichtsbuch nicht reichen wird, um eine gleichberechtigte Stellung in Schule und Gesellschaft aufzubauen.

«Jedes Schulkind soll die Schweiz in all ihren Facetten vermittelt erhalten. Doch in welchem Schulbuch kommen die Jenischen vor? Ein Vortrag einer Jenischen vor Schulklassen, wie es zum Glück in den letzten Jahren öfter geschieht, ist ein Tropfen auf einen heissen Stein, birgt sogar die Gefahr in sich, dass wir weiterhin nur als ‹exotische Randnote› wahrgenommen werden. Wenn im Unterricht, ob Geschichte, Geografie, Sozialkunde, wie immer die Fächer heissen, weiterhin nur die verschiedenen Aspekte der Mehrheitsgesellschaft unterrichtet werden, werden auch Ihre Nachfolgerinnen, sehr geehrte Damen und Herren, nicht mit der nötigen Selbstverständlichkeit an uns denken, wenn die Raumplanung folgender Generationen am Schreibtisch entsteht». Diese Feststellung machte Uschi Waser, die Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische, am 7. April 2011 an einer Tagung der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende vor nationalen und kantonalen Experten für Raumplanung.

Nur 10 Prozent sind «Fahrende»

Seither hat sich einiges bewegt: In den Jahren 2013 und 2014 veranstaltete das Zentrum für Demokratie in Aarau (ZDA) Fachtagungen zu Roma, Sinti und Jenischen. Weiter erarbeiteten Studierende der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz Lernaufgaben und Lernumgebungen über «Roma, Sinti und Jenische im Geschichtsunterricht». Erste Schritte sind also mittlerweile auch von der Seite der Schule her gemacht. Im ZDA-Informationsblatt «Diskriminierung heute» werden allerdings nur die drei Bereiche «Stand- und Durchgangsplätze», «Bettelverbot» und «Berichterstattung» beleuchtet. Die Lehr- und Lerneinheiten wurden viel mehr über als mit den Jenischen, Sinti und Roma erarbeitet. Sie lassen durch solche Fokus-Verengungen in der Themenwahl nach wie vor 90 Prozent der thematisierten Minderheiten aussen vor, denn weniger als 10 Prozent der Jenischen, Sinti und Roma leben tatsächlich als «Fahrende».

Eine jenische Gymnasiastin erzählte mir: «Weisst Du, dass die Kindergärtnerin das Wort ‹Jenische› nicht kannte, hat mich erstaunt. Bis zur Oberstufe hatte ich mich daran gewöhnt. Dass aber auch die Gymnasiallehrer keine Ahnung haben, was Jenische sind, hat mich schockiert.» Ja, Schule soll diskriminierungsfrei sein oder werden. Solange aber Minderheiten, die seit Jahrhunderten Teil der Gesellschaft sind und die Landeskultur mitprägen, nicht auch Teil der Grundbildung sind, wird es schwer, wenn nicht unmöglich sein, von ihnen eine Integration zu verlangen und zu erwarten, dass sie die ererbten Schulängste über Bord werfen.

Bibliografie

Myers, David G. Psychologie. Springer 2008 (Lewis Terman s. 483)

Nobel, Venanz. Die eigene Geschichte selber schreiben, WoZ die Wochenzeitung Nr. 5/1988