Autoren
Madeleine Scherrer ist Assistentin am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der PH FHNW und Diplomassistentin am Departement für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg. madeleine.scherrer@fhnw.ch
Béatrice Ziegler ist Leiterin des Zentrums Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der PH FHNW. beatrice.ziegler@fhnw.ch
Erziehung zur Toleranz soll in der Volksschule das Konzept der Interkulturalität verankern. Ein reflektierter Umgang mit Rassismus und Rassismuskritik sind in den Lehrplänen jedoch nicht gefordert.
In jüngster Zeit standen sowohl der Lehrplan 21 (LP 21) wie auch der Plan d’études romand (PER) im medialen Scheinwerferlicht. In der öffentlichen Debatte spielte aber die Frage, inwiefern die neuen Lehrpläne Grundlagen für ein Lernen kultureller Toleranz jenseits rassistischer Haltungen bieten, kaum eine Rolle. Wie sind interkulturelles Lernen und antirassistische Bildung in den beiden Lehrplänen verankert, und wie fliessen diese Themen in die Aus- und Weiterbildung von (angehenden) Lehrpersonen ein? Diesen Fragen gehen wir im Folgenden nach.
Der im HarmoS-Konkordat festgehaltene Bildungsauftrag der Volksschule wird zunächst in den Grundlagen des LP 21 dargelegt: Es sei zentral, «den gegenseitigen Respekt im Zusammenleben mit anderen Menschen insbesondere bezüglich Kulturen, Religionen und Lebensformen» zu fördern. Das Bildungsziel – Förderung des gegenseitigen Respekts – taucht dann auch in diversen Fachbereichen auf, etwa in den Fachbereichslehrplänen Sprachen; Natur, Mensch, Gesellschaft; Ethik, Religionen, Gemeinschaft.
Zum Erwerb sozialer Kompetenzen, die in den Grundlagen des LP 21 unter überfachliche Kompetenzen fallen, gehört unter anderem, dass Schüler/innen «Vielfalt als Bereicherung erfahren» können und «respektvoll mit Menschen umgehen, die unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen oder sich in Geschlecht, Hautfarbe, Sprache, sozialer Herkunft, Religion oder Lebensform unterscheiden». Es wird vorgeschlagen, diese Bildungsziele mit einer fächerübergreifenden Herangehensweise zu verfolgen. An prominenter Stelle tauchen diese fächerübergreifenden Themen unter der Leitidee Bildung für nachhaltige Entwicklung im Bereich Kulturelle Identitäten und interkulturelle Verständigung auf. Dabei geht es darum, dass kulturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen thematisiert werden, wobei Lernende unter anderem «Lebensweisen von Menschen verschiedener Kulturen» vergleichen sowie «Menschen und Erzeugnissen aus unterschiedlichen Kulturen» begegnen sollen. Das Motiv des Vergleichens taucht an verschiedenen Stellen in den Fachbereichslehrplänen auf (zum Beispiel Natur, Mensch, Gesellschaft; Bildnerisches Gestalten). Das Motiv des Begegnens kommt bei den Sprachen (F, E, I) vor, wobei im Kontext der Sensibilisierung für gesellschaftliche Vielfalt die Bedeutsamkeit von authentischen Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Kulturräumen hervorgehoben wird. Nicht zuletzt geht es darum, dass Lernende insgesamt eine offene Haltung gegenüber unterschiedlichen Menschen entwickeln können. Bei den didaktischen Hinweisen zum Bereich Ethik, Religionen, Gemeinschaft findet sich etwa die Aussage: «Grundlage und Ziel des Unterrichts ist eine unvoreingenommene, offene Haltung und ein nicht diskriminierender Umgang mit Religionen und Weltanschauungen». Hierbei kommt auch die Forderung der Nicht-Diskriminierung vor, wie sie ebenfalls in zahlreichen weiteren Bereichen aufscheint. Auffällig ist jedoch, dass im gesamten LP 21 der Begriff «Rassismus» – oder Variationen des Begriffs – an keiner Stelle auftauchen.
Der Begriff «racisme» kommt auch im PER nicht vor. Das Motiv der Entwicklung einer offenen Haltung ist aber im Westschweizer Lehrplan ebenfalls häufig zu finden (zum Beispiel. Science de l’Homme et de la Société, Formation générale, Capacités transversales). Damit hängt hier ebenfalls das Bildungsziel der Förderung des gegenseitigen Respekts zusammen, wobei es anzumerken gilt, dass im Gegensatz zum LP 21 in diesem Kontext der Begriff der «altérité» (Andersartigkeit) ins Feld geführt wird. Im Bereich der Formation générale wird denn auch folgendes Bildungsziel postuliert: «Reconnaître l’altérité et développer le respect mutuel dans la communauté scolaire... en identifiant les diversités et les analogies culturelles (…)».
Es fällt auf, dass auch im PER die Annäherung an die geforderte offene Haltung oder den gegenseitigen Respekt durch die Beschäftigung mit und der Herausarbeitung von kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden geschehen soll. Dabei tritt das Motiv des Vergleichens ebenfalls zutage, wenn etwa im Bereich Science de l’Homme et de la Société die Schüler/innen dazu eingeladen werden, «à comparer l’ici et l’ailleurs, l’hier et l’aujourd’hui, développant ainsi la capacité de mise en perspective et de distanciation, nécessaire à la compréhension des réalités spatiales et temporelles». Das Entdecken verschiedener Kulturen, Religionen und Sprachen in der Schule – im Bereich Langue 1 – Français etwa explizit auch mit sprachübergreifenden bzw. interlinguistischen Ansätzen – soll zu einem vertieften Verständnis von kultureller, religiöser und sprachlicher Vielfalt beitragen und nicht zuletzt zur Anerkennung von Vielfalt führen (zum Beispiel in Éthiques et cultures religieuses).
Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Themen des interkulturellen Lernens und der antirassistischen Bildung in die Ausbildung von angehenden Lehrpersonen einfliessen, haben wir uns auf die Studiengänge an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW beschränkt. Studierenden, die sich als Lehrpersonen für die Vorschul- und Unterstufe ausbilden lassen, steht im Sachunterricht im Rahmen der Fachdidaktik im Wahlpflichtmodus eine Veranstaltung zur Auswahl, in der Interkulturalität als Phänomen im Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft thematisiert wird. Falls sich die Studierenden für andere Wahlfächer entscheiden, kann es jedoch sein, dass sie sich während ihres Studiums im Sachunterricht nicht systematisch mit diesem Thema auseinandersetzen.
Ganz ähnlich gestaltet es sich für die angehenden Lehrerinnen und Lehrer der Primarstufe: Im Modulbereich Erziehungswissenschaften gibt es die Möglichkeit, während eines Semesters entweder ein Seminar zu Sozialisationsprozessen oder zu Interkulturalität zu besuchen. Auch hier ist es also nicht garantiert, dass alle Studierenden obligatorisch eine Veranstaltung im Bereich der Interkulturalität besuchen.
Die Themen der antirassistischen Bildung und des interkulturellen Lernens tauchen in der Lehrerbildung für die Sekundarstufe I an der PH FHNW in fachwissenschaftlichen sowie fachdidaktischen Modulen der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in diversen Veranstaltungen auf. Ganz spezifische Module zu diesen Themenfeldern werden jedoch nicht angeboten. Im Rahmen von exemplarischen Vertiefungsmodulen werden gleichwohl zeitweilig Räume für vertiefende Diskussion und Reflexion etwa zum Thema «Sinti, Roma und Jenische», zu «Rassismus» oder «Migration» eröffnet.
In der Lehrerbildung für die Sekundarstufe II existiert im Bereich der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer ebenfalls kein spezifisches Modul zu diesen Themen. Auch hier bemüht man sich darum, diese im Rahmen der Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Aufgabe von Geschichtsunterricht in der heutigen Gesellschaft mit in den Blick zu nehmen (etwa im Kontext der Beschäftigung mit Imperialismus und Sozialdarwinismus im 19. Jahrhundert oder von Holocaust und Flüchtlingskrisen im 20. Jahrhundert). Zur Philosophiedidaktik für die Sekundarstufe II lässt sich zusätzlich noch anmerken, dass die Themen Rassismus und Diskriminierung in zwei Modulen behandelt werden: Zum einen im Modul Praktische Philosophie zum Thema ToleranzPhilosophie und zum anderen im Modul Religionsphilosophie.
An der PH FHNW stehen Lehrpersonen gegenwärtig einige Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema der antirassistischen Bildung zur Verfügung – so etwa der «CAS Interkulturelle Bildung und Deutsch als Zweitsprache IKB DAZ». Allerdings ist festzustellen, dass in den vergangenen Jahren zu den oben besprochenen Themen einige Weiterbildungskurse angeboten wurden, die jedoch häufig aufgrund von mangelndem Interesse abgesagt werden mussten. Da die Themen nun – etwa wegen der aktuellen Flüchtlingsproblematik – wieder vermehrt in den Vordergrund rücken, sind ab 2017 erneut Angebote dazu vorgesehen.
Insgesamt lässt sich die Bilanz ziehen, dass sowohl die Lehrpläne und Ausbildungsgänge wie auch die Weiterbildungsangebote Raum lassen, Rassismus zu thematisieren und interkulturelle Erziehung zu betreiben. Allerdings sind dabei zwei Einschränkungen zu machen: 1. Die Lehrpläne wie auch die Ausbildung erzwingen die Auseinandersetzung mit der Thematik nicht. 2. Die Problematik wird als ein Thema der Erziehung hin zur Toleranz und Vielfalt gesehen, nicht aber zur reflektierten Kritik und Ablehnung rassistischer Konzepte und Verhaltensformen genutzt. Insofern bleibt die Anlage in der Hälfte stecken.