TANGRAM 37

Gemeinsam – Getrennt – Verknüpft?

Bildung im Umgang mit Rassismus und Antisemitismus

Autorin

Prof. Monique Eckmann ist Soziologin und emeritierte Professorin der Fachhochschule Westschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit in Genf. Monique.eckmann@hesge.ch

Antirassistische Bildung schliesst alle Formen von Rassismus ein, auch Antisemitismus. Sollen beide Themen gemeinsam oder getrennt angegangen werden? Die Antwort lautet: sowohl als auch. Wichtig sind Differenzierung und der Einbezug von Emotionen und Motivationen.

Unser Ansatz geht mit Rassismus und Antisemitismus als «gelebter Erfahrung» (Memmi) um. Dabei geht es um konkrete alltägliche Situationen, in denen Anspielungen, Bemerkungen, Diskriminierungen oder Gewalt erfahren oder beobachtet werden. Erleben betrifft hier nicht nur die Zielgruppen von Rassismus, sondern ist auch als gemeinsame, geteilte Erfahrung zu verstehen – und zwar von beiden Seiten: Mehrheiten und Minderheiten. Es geht dabei um soziale Beziehungen zwischen Gruppen, in denen das Heranziehen antisemitischer und rassistischer Erklärungsmuster eine permanente «Versuchung» darstellt (Wieviorka), die dazu dient, gesellschaftliche Missstände auf «andere» abzuschieben und sie dafür verantwortlich zu machen. Es gilt also in der Bildung, auch diese Missstände anzugehen und zu erkennen, inwiefern Antisemitismus und Rassismus als kultureller Code (Volkov) und als Identitätskonstruktion zu verstehen sind, und nicht als ideologisch fundierte Einstellung. Damit kann Bildungsarbeit zu einem Ort der gegenseitigen Verständigung rund um Erfahrungen mit Rassismus und Antisemitismus werden.

Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Interaktionen

Rassismus und Antisemitismus besitzen gemeinsame Grundmechanismen. Jedoch sind die Erscheinungsformen von Rassismus und Antisemitismus unterschiedlich, was zu Missverständnissen führt, wenn diese nicht genauer angegangen werden, insbesondere die Unterscheidung von Diskriminierung einerseits, und Hass und Gewalt andererseits:

Diskriminierung und Gewalt

Diskriminierung ist ungleiche Behandlung von Personen in gleichen Situationen, also Verweigerung von Ressourcen, Rechten und gesellschaftlichen Positionen, und hat langzeitige strukturelle Folgen. Das Ausüben von Diskriminierung, ob ideologisch fundiert oder nicht, ist immer mit einem gewissen Mass an Macht verbunden. Es gibt hingegen auch andere Formen rassistischen Handelns, die man als Hass-Gewalt bezeichnen kann: Stigmatisierung, Entwürdigung, verbale Gewalt und Hassreden, Intoleranz, symbolische Gewalt, Hasskriminalität oder Gewalttaten. Diese können von jedem und jeder ausgeübt werden, sei es «von oben» oder «von unten», und erfordern keine institutionelle oder soziale Machtposition.

Die Unterscheidung von Diskriminierung und Gewalt/Hass macht den Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus, denn dort, wo Angehörige vieler Gruppen im sozialen und ökonomischen Bereich diskriminiert werden (zum Beispiel im Arbeits- oder Wohnungsmarkt oder von der Polizei), trifft dies auf Juden nicht zu. Wenn also Jugendliche manchmal behaupten, Juden würden heute nicht mehr diskriminiert, stimmt das in gewisser Weise. Juden sind vor allem Ziel von Hass und Gewalt, von materiellen oder symbolischen Angriffen (zum Beispiel Hassbriefe, Friedhofschändung, Holocaust-Leugnung). Es wird auch oft bemerkt, dass Antisemitismus stark zunehme. Das ist ungenau. Das Antisemitismustabu der Nachkriegszeit ist in der Tat gebrochen. Aber die Forschung zeigt, dass die antisemitischen Einstellungen in der Gesamtgesellschaft nicht zunehmen, sondern etwa konstant bleiben, jedoch ein Anstieg von Gewaltakten beobachtet wird. Dazu kommt eine steigende Anzahl von Hass-Äusserungen und Gewalt-Drohungen auf Internet und in den sozialen Netzwerken (FRB).

Interaktionen und Verflechtungen

Wie wirken nun diese Rassismen aufeinander, welches sind die Interaktionen? Verknüpfungen finden einerseits im Kontext zunehmender Ethnisierungstendenzen statt; dies nicht nur seitens der Mehrheitsgesellschaften, sondern auch seitens der Minderheiten. Diskurse über nationale Präferenz verbreiten sich, und gleichzeitig fordern auch Minderheiten immer stärker gesellschaftliche Anerkennung nationaler, ethnischer und religiöser Differenzen ein. So können sich potentiell alle Gruppen gegen alle wenden – ein «multilateraler Rassismus» (Lapeyronnie). Das Phänomen beschränkt sich nicht auf die Beziehungen zwischen Muslimen und Juden, doch oft beherrschen diese Beziehungen die Debatte.

Es bestehen hier Analogien zum Phänomen des «Black Antisemitism» in den USA. Wie West zeigt, gab es in den USA zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren eine recht harmonische Phase der schwarz-jüdischen Empathie und der Allianzen, wie etwa die Freundschaft zwischen Martin Luther King und Abraham Joshua Heschel. Trotzdem gibt es einen tiefverwurzelten «Black Antisemitism», der sich aus einem allgemeinen Ressentiment gegen Weisse nährt, und gegenüber einer Minderheit, die es «geschafft» habe, sich in der dominanten Gesellschaft zu etablieren.

Ähnliches sieht man in Frankreich, wo junge Franzosen nordafrikanischer Herkunft sich mit dem Schicksal der Palästinenser identifizieren, mit dem Gefühl, dass sie von den Franzosen genauso behandelt würden wie die Palästinenser in Israel von den Israelis (Wieviorka). Dazu fügen sich Ressentiments, insbesondere angesichts der sozialen Krise, in der sich die französische Gesellschaft seit vielen Jahren befindet.

Es ergibt sich also ein Antisemitismus, der durch das Zusammentreffen einer lokalen und einer globalen Logik geprägt ist: Einer lokalen Logik, erzeugt durch die Erfahrung von alltäglicher Diskriminierung, sozialem Ausschluss, Prekarität und Armut, und einer globalen Logik, in der man sich als Teil der Weltpolitik wahrnimmt. Der Antisemitismus wird somit auch zum Ausdruck der Revolte gegen «das System», gegen Institutionen wie die Schule, die Politik des Establishments oder die Polizei.

Antisemitismus als Klima im Kontext von Alltagsrassismus

So wie sozial benachteiligten Schichten häufig unterstellt wird, mit rassistischen Ressentiments behaftet zu sein, wird auch der Antisemitismus-Vorwurf vorrangig gegen jugendliche Migrant/innen gerichtet, und als nicht zur Kerngesellschaft gehörend klassifiziert. So wird der Rassismus- bzw. Antisemitismusvorwurf selbst zu einer Form von rassistischer Zuschreibung.

Gleichzeitig ist der antisemitische Sprachgebrauch unter Jugendlichen in den französischen Banlieues weit verbreitet, wie Lapeyronnie zeigt. Er stellt aber fest, dass es sich dabei weniger um ein ideologisch untermauertes Gebilde handelt, als vielmehr um ein identitätsstiftendes Weltbild, in dem «die anderen» sprachlich situiert werden, und man sich selbst als Opfer dieser Gruppe definiert. Mit Hilfe von Verschwörungstheorien werden «die Juden» zu einer allgegenwärtigen Macht stilisiert, was die eigene miserable Situation erklären soll. Ihr selbst erfahrener Rassismus wird so von diesen Jugendlichen in einen antisemitischen Interpretationszusammenhang gestellt.

Es handelt sich also um ein soziales Klima, in dem das antisemitische Sprechen zum «kulturellen Code» wird und häufig auch mit anderen Formen von Ablehnungen verbunden ist, vor allem Homophobie und Sexismus. Das Spezifische am Antisemitismus ist jedoch seine politische und globale Dimension und dass er vermeintliche Erklärungen liefert für die lokale Situation und den selbst erlittenen antimuslimischen Rassismus sowie für das globale politische Geschehen.

Herausforderungen für die Bildung

Bei Bildung gegen Rassismus und Antisemitismus geht es also nicht nur um ideologische Konstrukte, sondern um Erfahrung und Emotion. Beide Themen sind mit ihren Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Interaktionen zusammenzudenken, um sich in einem gemeinsamen Reflexionsraum mit ihnen auseinanderzusetzen. Der situative Zugang erlaubt, auf konkrete Situationen einzugehen und die Emotionen der Lernenden einzubeziehen. Der Fokus liegt dabei weniger auf der Analyse von Diskursen und Bildern, als vielmehr auf der Auseinandersetzung mit Situationen, um Handlungsoptionen zu erarbeiten, ohne dass die Erfahrungen gewertet oder hierarchisiert werden. Zu den pädagogischen Ansätzen gehört auch die Möglichkeit, mit Geschichte(n) und Erinnerung(en) zu arbeiten. Das führt zur Frage:

Inwieweit ist Vermittlung der Shoa antirassistische Bildung?

Die Vermittlung der Shoa als tiefgreifendes Ereignis der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehört in jedes Bildungsprogramm, um zu verstehen, zu welch radikalen Verbrechen gegen die Menschheit Rassismus und Antisemitismus führen können und wie weit ein totalitäres Regime – auf Terror und rassistischer Ideologie beruhend –
gehen kann. Auch gilt es, der Opfer zu erinnern, sowie sich kritisch mit der Rolle des eigenen Landes auseinanderzusetzen. Doch so wichtig dies ist, es führt nicht geradlinig zu Bildung gegen Rassismus oder Antisemitismus heute. Die Empathie mit den damals Verfolgten wird nicht zwangsläufig auf die Nachgeborenen übertragen, und aus dem Lernen über ein Verbrechen lernt man nicht, wie man sich dagegenstellen kann. Trotzdem kann die Auseinandersetzung mit der Shoa und anderen Genoziden zum moralischen Lernen beitragen, und sie kann insbesondere eine starke Motivation generieren, sich vertiefter mit Antirassismus-, Demokratie- und Menschenrechts-Bildung zu befassen.

Heute sind jedoch besonders Bildungsinitiativen gefragt, die Rassismus – insbesondere gegen Muslime – und Antisemitismus gemeinsam angehen, Erfahrungen austauschen und Raum für Dialog bieten. So kann das (An-)Erkennen von rassistischen und antisemitischen Vorfällen und Äusserungen gefördert werden, und Gegenmassnahmen können erprobt werden. Damit wird die Solidarität mit, aber auch unter den verschiedenen Minderheiten gestärkt.

Bibliografie:

Eckmann, M. Herausforderungen im Umgang mit Rassismen und Antisemitismen, in: Rauschenberger & Konitzer (Hrsg.), Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments. Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main, 2015, S. 157-174.

Eckmann, Monique (2012) Gegenmittel. Bildungsstrategien gegen Antisemitismen. In: Einsicht 08, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main, 4. Jahrgang, S. 44-49.

FRB Rassistische Diskriminierung in der Schweiz – Bericht der Fachstelle für Rassismusbekämpfung 2014. Bern: 2015.

Lapeyronnie, D. Les racines de l’antisémitisme sont ici, in: Le Nouvel Observateur, 15.7.2004.

Lapeyronnie, D. La demande d’antisémitisme. Antisémitisme, racisme et exclusion sociale. Conseil Représentatif des Institutions juives de France (CRIF): Paris 2005.

Memmi, A. Le Racisme, Paris 1982/1994, S. 39 f.

Volkov S., Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000.

West C., On Black-Jewish Relations, in: ders. Race Matters, New York 1994, S. 101–116.