Autorin
Dr. phil. I. Miryam Eser Davolio, Erziehungswissenschaftlerin, Dozentin am Departement Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, forscht und lehrt zu Extremismus und Jugendgewalt, Migration und Integration sowie zu sozialen Problemen. eser@zhaw.ch
In der Schweizer Bildungslandschaft ist der Begriff der Antidiskriminierungspädagogik noch wenig verankert. Ein Grund ist nebst dem Föderalismus die späte Aufarbeitung der Rolle der Schweiz bei Kolonialismus und Sklaverei. Trotzdem gibt es Fortschritte.
Es wäre naheliegend zu denken, dass in der viersprachigen Schweiz mit hoher Heterogenität und hohem Ausländeranteil die Erziehung zu Toleranz und gegenseitigem Respekt eine lange Tradition besitzt – was aber nicht der Fall ist. Denn im Vergleich zu den EU-Ländern hat antirassistische Bildung hier einen schweren Stand und konnte in den Lehrplänen der obligatorischen Schulzeit nie verankert werden. Die Behandlung der Judenverfolgung und -vernichtung während des Dritten Reichs stellt dabei das am häufigsten behandelte antirassistische Bildungsthema dar. Bedauerlicherweise bleibt es auch oft das einzige, dem Schüler/innen während ihrer Schulzeit begegnen.
Denn die Bemühungen in diesem Bereich beruhen meist auf dem Engagement einzelner Lehrpersonen und NGOs, welche antirassistische Bildungsangebote konzipieren und diese sowohl Schulen als auch weiteren Bildungseinrichtungen oder Jugendorganisationen offerieren. Die ausbleibende Verbindlichkeit muss erstens im Zusammenhang mit dem Schweizer Föderalismus und zweitens mit der späten Aufarbeitung der Beteiligung der Schweiz am Kolonialismus und der Sklaverei sowie an den Verstrickungen der Schweiz in den zweiten Weltkrieg gesehen werden. Dies führte mitunter dazu, dass Rassismus und Diskriminierung in der pädagogischen Landschaft Randthemen geblieben sind. Entsprechend ist der Begriff der Antidiskriminierungspädagogik im Schweizer Bildungswesen noch wenig verbreitet und wird wohl am ehesten im Rahmen der Menschenrechtsbildung thematisiert.
Trotz der fehlenden Verbindlichkeit im öffentlichen Bildungswesen konnten in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren Fortschritte in der antirassistischen Bildungsarbeit verzeichnet werden: So werden im Rahmen von Bundesfördergeldern über die Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Eidgenössischen Departements des Innern antirassistische Projekte für Schulen und Jugendeinrichtungen unterstützt, was dem Engagement und der Kreativität in der Entwicklung von antirassistischer Bildung sicher förderlich ist. Ausserdem gibt es in den Lehrplänen Freiräume, die für solche Inhalte genutzt werden können.
Was die Erwachsenenbildung angeht, sieht es insbesondere bei den Ausbildungsgängen in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Pädagogik bezüglich interkultureller und antirassistischer Bildung besser aus, sodass die zukünftigen Berufsleute im Kontakt mit heterogenen Zielgruppen interkulturell kompetent reflektieren, kommunizieren und handeln können (Eser Davolio & Gerber, 2012, 17 f.). Ebenso finden im Rahmen von Weiterbildungsangeboten für zukünftige Führungspersonen die Themen Diversity und Diskriminierung weite Verbreitung. Hält man sich so die ganze Bildungslandschaft vor Augen, wird klar, dass die Bemühungen im Bereich der antirassistischen Bildung oftmals punktuell und wenig verbindlich bleiben.
Antirassistische Bildung ist ein anspruchsvolles Unterfangen, wenn es um sehr negativ konnotierte, benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Asylsuchende, Sans Papiers oder Fahrende geht. So ist zum Beispiel Antiziganismus weit verbreitet, obwohl Jenische in der Schweiz eine sehr kleine Minderheit darstellen. Dies im Unterricht zu thematisieren, insbesondere die dramatischen Auswirkungen des Unrechts, das Jenischen durch staatlichen Rassismus mit der Aktion «Kinder der Landstrasse» angetan wurde, ist notwendig, um auch ihre heutige Situation und Stellung besser verstehen zu können (Huonker, 2009,168 ff.). Doch darf dabei nicht übersehen werden, dass Lehrpersonen und Lernende in der Regel zur Mehrheitsgesellschaft gehören und sich ihre Aufmerksamkeit somit auf eine Personengruppe richtet, die als nicht zu ihnen gehörend erscheint (Hamburger, 2001, 48). Damit wird das Mehrheit-Minderheit-Verhältnis reproduziert und die Minderheit wird zum Objekt, womit bestehende Vorurteilsstrukturen und Projektionen bestätigt oder weiter zementiert werden können. Deshalb müsste ein solches Lernsetting um die Dimension der systematischen Selbstreflexion ergänzt werden. Hier zeigt sich folglich, wie vielschichtig und komplex antirassistische Bildung ist und welch ausgeprägte transkulturelle Kompetenz Lehrpersonen mitbringen müssen. Dazu gehört auch die Kompetenz, mögliche kontraproduktive Effekte rechtzeitig abschätzen zu können.
Erziehungswissenschaftler Franz Hamburger plädiert in «Abschied von der interkulturellen Pädagogik» (2009) für einen Perspektivenwechsel und eine Abkehr von der Thematisierung kultureller Unterschiede und für eine stärkere Beachtung der politisch-ökonomischen Ebene – insbesondere der Armut und der fehlenden Gleichberechtigung. In westlichen Ländern, in welchen Pluralität zur Normalität geworden ist, sieht er die Notwendigkeit einer Neuorientierung an einem multidimensionalen Ansatz unter Berücksichtigung der Intersektionalität und der Vielgestaltigkeit von möglichen Benachteiligungen und Diskriminierungsformen.
Ganz in diesem Sinne gilt es bei pädagogischen Ansätzen darauf zu achten, dass die Zuschreibung und Hervorhebung des «Fremden», wie dies in der antirassistischen Bildungsarbeit oft geschieht, nicht zu einem Othering führen. Damit werden «Praxen bezeichnet, die Andere als positive, also sinnlich erkennbare, als einheitliche und kommunizierbare Phänomene konstituieren und darin den und die Anderen als Andere festschreiben und damit, in gewisser Weise, beständig verfehlen» (Broden & Mecheril, 2007, 13). Solche positiv oder negativ konnotierten Zuschreibungen und Verallgemeinerungen finden stets Eingang, wenn es um kulturelle Differenzen geht. Dazu kommt, dass bei Themen wie Kopftuchtragen, Zwangsverheiratung oder Ehrenmord gesellschaftlich vorherrschende Diskurse und Bilder ins Spiel kommen und zudem auch politische Instrumentalisierungen zum Tragen kommen können, sodass diese in interkulturellen Lernsituationen oft aufgegriffen werden und dabei auch ein Stück aktiv reproduziert werden. Ebenso werden dichotome symbolische Ordnungen geschaffen, wenn pauschalisierend von «integrierten Ausländern», «Sans-Papiers» oder «Expats» gesprochen wird. Othering als kommunikative Differenzziehung widerspiegelt somit den kategorisierenden Umgang und die totalitäre Vereinnahmung der Mehrheitsgesellschaft (Riegel, 2012, 210). Diese in der Bildungsarbeit zu vermeiden stellt hohe Ansprüche an die Reflexivität und Achtsamkeit von Pädagoginnen und Pädagogen, müssen sie doch neue, unbelastete Zugänge und sprachlich unverfängliche Bezeichnungen entwickeln, was Kreativität und Mut zur Innovation verlangt.
Eine aktuelle und höchst anspruchsvolle Herausforderung stellt die Radikalisierungsproblematik für Schulen dar, gilt es doch einerseits die Risiken einer sich abzeichnenden Radikalisierung und Hinwendungsprozesse rechtzeitig zu erkennen und andererseits Stigmatisierung und Islamfeindlichkeit keinen Vorschub zu leisten (Eser Davolio et al. 2015, 19). Dabei gilt es, Wir-Ihr-Diskurse und ein Othering durch Begriffe wie «DIE Muslime» verbunden mit Schuldzuweisungen absolut zu vermeiden und falls sie fallen, sie kritisch zu hinterfragen. Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung durch differenzierte, kritische Reflexion zu leisten bedeutet in diesem Fall meist Neuland zu betreten und Eigenentwicklungen zu erproben, da es keine oder nur vereinzelte pädagogische Anleitungen oder Materialien dazu gibt. Aber sich solch aktuellen und umstrittenen Themen zu stellen, Rassismus, Stigmatisierung und Diskriminierung engagiert aufzugreifen und die unterschiedlichen Perspektive kritisch zu diskutieren stellt auch eine Chance dar, einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit heiklen Themen zu leisten und unser Zusammenleben und damit unsere Gesellschaft für den Umgang mit solchen «Pulverfässern» fit zu machen.
Bibliografie
Broden, Anne & Mecheril, Paul (2007). Re-Präsentationen: Dynamiken der Migrationsgesellschaft. Düsseldorf: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in NRW (IDA-NRW).
Eckmann, Monique & Eser Davolio, Miryam (2002). Pédagogie de l’antiracisme. Genève: éditions ies; Lausanne: éditions lep.
Eckmann, Monique& Eser Davolio, Miryam (2003). Rassismus angehen statt übergehen – Theorie und Praxisanleitung für Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Zürich: Pestalozzianum.
Eser Davolio, Miryam; Banfi, Elisa; Gehrig, Milena; Gerber, Brigitta; Luzha, Burim; Mey, Eva; Möwe, Ilona; Müller, Dominik; Suleymanova, Dilyara; Steiner, Isabelle; Villiger, Carole & Wicht, Laurent (2015). Hintergründe jihadistischer Radikalisierung in der Schweiz. Eine explorative Studie mit Empfehlungen für Prävention und Intervention.
Eser Davolio, Miryam & Gerber, Brigitta (2012). Interkulturell Bilden. 10 Module für den Unterricht mit Erwachsenen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich. Luzern: Interact.
Glaser, Michaela & Rieker, Peter (2006). Interkulturelles Lernen als Prävention von Fremdenfeindlichkeit. Ansätze und Erfahrungen in Jugendbildung und Jugendarbeit. Halle: Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.
Hamburger, Franz (2001). Pädagogische Überlegungen zur Thematisierung von Sinti und Roma im Unterricht. In Hamburger, Franz (Hrsg.), Praxis des Antirassismus. Erfahrungen aus der Arbeit mit Sinti und Analyse zum Antiziganismus. Mainz: Schriftenreihe des Pädagogischen Instituts der Johannes Gutenberg-Universität, 47–66.
Hamburger, Franz (2009). Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim und München: Juventa.
Huonker, Thomas (2009). Ein dunkler Fleck. In S. Brändli, M. Eser Davolio & K. Kistler (Hrsg.), Merken, was läuft. Rassismus im Visier. Zürich: Pestalozzianum, 167–176.
Riegel, Christine (2012). Folgenreiche Unterscheidungen. Repräsentationen des «Eigenen und Fremden» im interkulturellen Bildungskontext. In S. Bartmann & O. Immel (Hrsg.). Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs. Bielefeld: transcript, 203–218.