Autorin
Judith Stofer hat einen Abschluss in Theologie sowie in Kulturmanagement und arbeitet als Journalistin BR. Seit 2011 ist sie zudem Mitglied des Zürcher Kantonsrates.
jstofer@gmx.ch
Die Religionsunterrichtslandschaft in der Schweiz präsentiert sich kunterbunt. So reicht die Palette von gar keinem Religionsunterricht bis hin zu kirchlicher Unterweisung mit staatlichem Segen. Einen eigenen Weg geht der Kanton Zürich mit einem säkularen Fach über die Weltreligionen.
Bereits bei der Lektüre der Stundentafeln für die Primarstufe und Sekundarstufe I für das Schuljahr 2015/2016 wird einem schwindlig: Nicht nur unterscheiden sich die Kantone bei der jährlichen Unterrichtszeit, der Lektionendauer und der Anzahl obligatorischer Schuljahre enorm, sondern auch beim Angebot an Pflicht-, Wahl- und Wahlpflichtfächern wird die vieldiskutierte Vielfalt im schweizerischen Schulwesen sichtbar. Fokussiert man bei der Lektüre der Stundentafeln den Blick auf den Religions- und Ethikunterricht, staunt die Beobachterin noch einmal über die Vielfalt der Modelle, die in der kleinräumigen Schweiz ihren Niederschlag finden.
So findet im Kanton Genf während der gesamten obligatorischen Schulzeit kein Religionsunterricht statt. Hingegen werden Fächer wie «Citoyenneté» (gesellschaftlicher Teilhabe) und «Vivre ensemble et exercice de la démocratie» (Zusammenleben und demokratische Praxis) unterrichtet, die andererseits in vielen Deutschschweizer Kantonen fast komplett fehlen.
Eine Art Gegenprogramm zum Kanton Genf findet im Kanton Obwalden statt. Dort ist der konfessionelle Religionsunterricht ab der zweiten Klasse Unterstufe und in den drei Jahren der Oberstufe mit je einer Wochenlektion Teil der Unterrichtszeit. Die Termine für den Religionsunterricht werden dabei jeweils zu Beginn des Schuljahres fix in den Stundenplan eingetragen. Für die Durchführung des konfessionellen Religionsunterrichts sind die kirchlichen Instanzen in Absprache mit den Schulleitungen zuständig, die Schulgemeinden stellen die Infrastruktur zur Verfügung. Zudem können von der katholischen Kirche im Bereich konfessioneller Religionsunterricht zusätzlich rund 20 Wochenlektionen für Schulgottesdienste und Blockunterricht in Anspruch genommen werden. Schüler/innen, die von diesen zusätzlichen Angeboten dispensiert sind, sind verpflichtet, andere schulische Angebote zu besuchen.
Auch in anderen Kantonen ist der konfessionelle oder kirchliche Religionsunterricht im Stundenplan eingebettet, Organisation und Finanzierung des Unterrichts obliegt aber den öffentlich-rechtlich anerkannten Landeskirchen beziehungsweise den Kirchgemeinden, so in den Kantonen St. Gallen, Thurgau, Solothurn und Schwyz.
In mehreren Kantonen gibt es Mischformen, das heißt, im Stundenplan ist ein obligatorischer staatlicher Religionsunterricht vorgesehen, der von den Klassenlehrpersonen unterrichtet wird. Zusätzlich stellen die Schulen den Religionsgemeinschaften Zeitfenster im Stundenplan und Räume für einen freiwilligen konfessionellen Religionsunterricht zur Verfügung. So werden im Kanton Uri alle Kinder in den ersten sechs Schuljahren während einer Wochenlektion im staatlich verantworteten Fach «Ethik und Religion» unterrichtet. Daneben besteht für die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, den konfessionellen Religionsunterricht der Landeskirchen zu besuchen. Ähnliche Lösungen gibt es in den Kantonen Aargau, Bern und Tessin.
Eine spezielle Lösung gefunden hat der Kanton Graubünden. Das Volk stimmte 2009 dem Gegenvorschlag einer Juso-Initiative zu, die verlangte, dass der bis anhin obligatorische zweistündige konfessionelle Religionsunterricht ganz durch einen staatlichen Ethik-Unterricht abgelöst wird. Das Stimmvolk zog den Kompromissvorschlag «Modell 1+1» vor – eine Wochenlektion staatlich verantwortete Religionskunde plus eine Lektion kirchlich verantworteten Religionsunterricht. Ab dem Schuljahr 2018/2019 geht die Bündner Regierung noch einen Schritt weiter. Das Fach «Religionskunde und Ethik» wird durch das neue, an den Lehrplan 21 angelehnte Fach «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» ersetzt. Ab diesem Zeitpunkt werden alle Bündner Kinder und Jugendlichen von der ersten bis zum neunten Schuljahr neben dem konfessionellen Religionsunterricht in den Genuss eines neuartigen staatlichen Religionsunterrichts kommen, in dem die ethisch-religionskundliche Bildung im Zentrum steht. Die Ausbildungsprogramme für die Lehrpersonen sind inzwischen angelaufen.
Mit der Ausarbeitung und Umsetzung der neuen Lehrpläne – für die 21 Deutschschweizer Kantone des Lehrplans 21, für die Westschweiz des «Plan d’études romand» PER und für den Kanton Tessin des «Piano di studio» –
hat sich eine neue Dynamik entwickelt. Zumindest sei, so der Fachbereichsleiter für Kultur und Religion an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH), Johannes Rudolf Kilchsperger, die Religionsunterrichtslandschaft in den vergangenen 25 Jahren in Bewegung geraten.
Steht der Lehrplan 21 in der Deutschschweiz noch vor seiner Einführung, so ist der PER in der Westschweiz bereits eingeführt. Mit dem PER wurde auch das neue Fach «éthique et cultures religieuses» entwickelt. In den Erläuterungen zum PER wird dieses Fach näher umschrieben: Es ist religionskundlich ausgerichtet und schliesst ethische und gesellschaftliche Fragestellungen mit ein. Es gehört aber zu den nicht-obligatorischen Fächern, das heisst, die Kantone sind nicht verpflichtet, es einzuführen, und sie sind auch an keine Vorgaben gebunden. Die Stundentafel 2014/2015 für die Westschweizer Kantone weist lediglich für die Kantone Jura, Bern (französischsprachiger Teil), Wallis und Waadt einen obligatorischen Religionsunterricht aus. In den meisten Westschweizer Kantonen, mit Ausnahme des Kantons Wallis, gehört der Religions- und Ethikunterricht auf der Oberstufe zum fakultativen Programm.
Unabhängig vom Lehrplan 21, der die Einführung eines neuen, lebens- und religionskundlich ausgerichteten Fachs «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» vorsieht, hat der Kanton Zürich eine eigenständige Lösungen entwickelt und umgesetzt. Die Einführung eines neuen, staatlich verantworteten und obligatorischen Faches «Religion und Kultur», das vom Zürcher Kantonsrat 2007 mit grosser Mehrheit unterstützt worden war, ist vielleicht auch der speziellen Entstehungsgeschichte der Zürcher Volksschule und der protestantischen Tradition mit seiner Bekenntnisfreiheit geschuldet. So ist die Zürcher Volksschule 1832 «im Ringen zwischen Liberalismus und kirchlichem Konservatismus entstanden», wie Kilchsperger in einem Aufsatz im Buch «Religionsunterricht – wohin?» schreibt.
«Dass die Einführung und Etablierung des neuen Fachs ohne grosse Widerstände über die Bühne ging, ist ein kleines politisches Wunder», sagt Kilchsperger. Es zeige aber auch, dass es einem gesellschaftlichen Bedürfnis entspreche – vor allem in multikulturellen, urbanen Gebieten. Seit dem Schuljahr 2011/2012 ist das Schulfach «Religion und Kultur» in allen Schulen des Kantons Zürich eingeführt. Der Unterricht ist konfessionsneutral und vermittelt in erster Linie kulturkundliches Grundwissen über die verschiedenen Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus). Gemäss Zürcher Lehrplan wird als Richtziel «eine Kompetenz im Umgang mit religiösen Fragen und Traditionen angestrebt, die in vier Aspekten entfaltet wird: Wahrnehmung, Wissen und Verstehen, Orientierung, Verständigung».
Ein Blick ins Lehrmittel «Blickpunkt Religion und Kultur» verdeutlicht die inhaltliche Stossrichtung eines staatlich verantworteten Religionsunterrichts. Dieses im Auftrag der Zürcher Bildungsdirektion von einem Autorenteam der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) entwickelte Lehrmittel «für den bekenntnisunabhängigen schulischen Unterricht in Religion und Kultur» wird an der Volksschule im ganzen Kanton Zürich verwendet und umfasst drei aufeinander abgestimmte Teile: Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe.
Einer der Projektleiter des neuen Lehrmittels, Michael Zangger, umschreibt die Stossrichtung so: «Religion wird im Sinne von Kultur definiert, das heisst, der Religionsunterricht ist ein säkulares Fach über Religionen.» Das Lehrmittel ist so aufgebaut, dass es einerseits Grundkenntnisse der grossen religiösen Traditionen vermittelt, die in der Schweiz präsent sind (Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus). Hauptsächlich werde aber ein Schwergewicht auf die Kompetenzorientierung gelegt, betont der Dozent der PHZH. Zangger: «Es geht darum, dass Kinder und Jugendliche beschreiben und verstehen können, was sie beobachten und wahrnehmen, dass sie aber auch mehr Sicherheit im Umgang mit dem Thema bekommen.» Kinder und Jugendliche werden in ihrer konkreten Welt abgeholt, der Unterrichtsstoff knüpft bei den Erfahrungen, Vorstellungen sowie der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen an.
Weiter soll mit dem Unterricht gegenseitiger Respekt gefördert und ein Beitrag zur politischen Bildung und Sensibilisierung für ethische und existenzielle Fragen geleistet werden. Speziell zu erwähnen ist, dass die Lehrmittel nicht im luftleeren Raum entstanden sind. Das Autorenteam wurde bei seiner Arbeit von Mitgliedern der verschiedenen Weltreligionen, inklusive einem Vertreter der Freidenker, eng begleitet. Neben Unterrichtsbüchern und Kommentaren für Lehrpersonen gibt es eine breite Palette von Zusatzmaterialien wie Dia-Serien, Reportagen, Filme, Auto- und Fotodateien, Unterrichtsblätter. Das Fach «Religion und Kultur» wird von Fachlehrpersonen unterrichtet, die eine Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) absolviert haben.
Bibliografie:
Johannes Rudolf Kilchsperger, Neugier auf das, was sie nicht glauben. Das neue Schulfach Religion und Kultur im Kanton Zürich, In: Bernd Schröder (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchener Verlag, 2014.
Thomas Schlag, Religiöse Bildung an Schulen in der Schweiz. In: Martin Jäggle, Martin Rothgangel, Thomas Schlag Hg.), Religiöse Bildung an Schulen in Europa, Teil: Mitteleuropa. Vienna University Press, 2013.
Blickpunkt – Religion und Kultur, Teil 1 bis 3, Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, 2013.
Une nouvelle dynamique pour l’enseignement religieux
(Kurzversion)
Nuovo dinamismo nell’insegnamento religioso
(Kurzversion)