TANGRAM 40

Leben unter Generalverdacht. Muslime stehen unter ständigem Zwang der Rechtfertigung

Autoren

Erweiterte Fassung des Grusswortes an der EKR Fachtagung vom 11.09.2017 in Freiburg

Martin Baumann ist Pro
fessor für Religionswissenschaft und Prorektor Forschung an der Universität Luzern. martin.baumann@unilu.ch

Andreas Tunger-Zanetti ist Koordinator des Zentrums Religionsforschung und Forschungsmitarbeiter der Universität Luzern.
andreas.tunger@unilu.ch

Muslimische Jugendliche und junge Erwachsene sehen sich als Teil der Schweizer Gesellschaft. Muslimfeindlichkeit im medialen Diskurs oder in Einzelerlebnissen stellt dieses Zugehörigkeitsgefühl in Frage.

Muslimfeindlichkeit ist Gift und schädlich – für die Gesellschaft und für Muslime. Muslimfeindliche Stereotypisierungen verneinen den Verfassungsartikel auf Religions- und Glaubensfreiheit; sie verstellen den Blick auf die unterschiedlichen individuellen Interpretationen gelebten Muslimseins und grenzen Muslime und Musliminnen als nicht zugehörig aus. Muslime selbst fühlen sich verunglimpft, diskriminiert und ausgegrenzt, zugleich stehen sie unter ständigem Zwang der Rechtfertigung.

Für Muslime und Musliminnen bildet die in weiten Teilen der Gesellschaft vorhandene Ablehnung und Bedrohungszuschreibung einen wichtigen Erfahrungsraum. Wir konzentrieren uns hier auf die Erfahrungen und Reaktionen von muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern führte in den vergangenen Jahren verschiedene Forschungen zu jungen Muslimen und Musliminnen durch. Im jüngsten Forschungsprojekt «Imame, Rapper, Cybermuftis» ging es um Fragen wie die folgenden: Auf wen hört die jüngere muslimische Generation bei Fragen zu muslimischem Verhalten und muslimischer Praxis? Wie geht sie mit den Angeboten von Imamen und Internetpredigern, Freunden und Verwandten um? Wie ist ihre Haltung zu Staat und Gesellschaft der Schweiz, und welche Strategien wählen junge Muslime, um ihre Religiosität hier zu leben?

Sichtbare islamische Identität erregt Anstoss

Dabei kamen die Interviewten immer wieder von sich aus auf den stereotypisierenden Diskurs zu sprechen. Unsere Forschungen zeigen auf, dass der Grossteil der interviewten jungen Musliminnen und Muslime negative Erfahrungen aufgrund ihres Muslimseins gemacht hatte. Insbesondere die Sichtbarkeit islamischer Identität führt zu Unverständnis, Provokationen und Anfeindungen, wie uns gerade junge Frauen, die das Kopftuch tragen, berichteten – zum Beispiel die 30-jährige Djihan:

«Wen stört das, dass ich ein Kopftuch trage? Keinen Menschen stört das. Aber ich werde diskriminiert. Wenn ich jetzt da mit dem Kopftuch herumlaufe, dann habe ich nie dieselben Möglichkeiten, wie wenn ich ohne Kopftuch herumlaufe. Die meisten Leute würden mich nicht erst nehmen.» (Djihan)

Zugleich empfindet der Grossteil junger Muslime den gesellschaftspolitischen und medialen Diskurs als verzerrend, einseitig und persönlich belastend. Den Erwartungsdruck, sich vom islamisch begründeten Extremismus und Terrorismus zu distanzieren, sind sie leid und sprechen den Extremisten kategorisch ab, den Islam richtig zu verstehen. Die 26-jährige Xhevahire bringt es auf den Punkt:

«Es ist nervig, wirklich. Jeder Moslem muss sich rechtfertigen für andere Idioten, wirklich. Ich sage denen Idioten, weil das sind keine Moslems […]. Für irgendwelche Idioten, die sich Islam nennen, und dann muss ich mich für die rechtfertigen und mich distanzieren und sagen: ‹Nein und dies und das.› Ich meine, das passiert am anderen Ende der Welt, und ich hier in der Schweiz muss für die quasi reden, weil, ja, die werfen mich auch in einen Topf rein. Und das ist lästig, das ist wirklich sehr lästig. Also das nimmt mich wirklich sehr mit.» (Xhevahire)

Als Teil des gesellschaftspolitischen Diskurses haben die meisten jungen Muslime die Kampagne zur Volksinitiative für ein Minarettverbot von 2009 in unguter und bleibender Erinnerung. Diese Kampagne prägte nachdrücklich ihre Erfahrung, als abgelehnt und nicht zugehörig zu gelten, obwohl viele von ihnen Schweizer Bürger und Bürgerinnen sind. Der 19-jährige Yunus berichtet:

«Also bei gewissen Entscheidungen, die der Staat trifft, sei es jetzt zum Beispiel die Minarett-Initiative oder das angesprochene Burka-Verbot oder so, das sind Sachen, die kommen eigentlich auch relativ verletzend rüber. Also von meinem Freundeskreis bin ich eigentlich nicht so enttäuscht wie vom Staat selber […]. Bei dieser konservativen Welle, in der wir uns eigentlich befinden, wo man fast schon bös gesagt anti-islamische Entscheidungen trifft und eigentlich den Islam mehr als einen Feind sieht, den man bekämpfen muss. Dieses Denken ist wirklich was, von dem ich mich persönlich eigentlich auch irgendwie verletzt fühle und von dem ich nicht weiss, ob ich / wie lange ich das mitmachen will. » (Yunus)

Diese direkte Betroffenheit von gesellschaftspolitischer Ablehnung und Verunglimpfung bewirkte bei einigen jungen Muslimen oftmals erst, sich mit der eigenen Religion auseinanderzusetzen und mehr zum Islam erfahren zu wollen.

Unterschiedliche Strategien

Junge Musliminnen und Muslime nehmen aufgrund dieser Erfahrungen Staat und Gesellschaft als Herausforderung wahr. Insofern wägen sie genau ab, welche Reaktionen ihre religiöse Praxis bei Nicht-Muslimen hervorrufen könnte, wenn sie etwa die Gebetszeiten einhalten oder das Kopftuch tragen. Vier unterschiedliche Strategien zeigen, wie Muslime ihre Religiosität angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen leben:

  • Viele der von uns interviewten jungen Muslime und Musliminnen begrenzen ihre religiöse Praxis auf den Bereich des Privaten. Zugleich sind sie darauf bedacht, dass ihre muslimische Identität in Begegnungen mit Nicht-Muslimen nicht im Vordergrund steht.
  • Andere positionieren sich als Muslime in der Gesellschaft. Zugleich achten sie darauf, religiöse Praktiken an die gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen und etwa nur mit dem Einverständnis des Arbeitsgebers die Gebete am Arbeitsplatz auszuüben.
  • Im Gegensatz zu den ersten zwei Strategien betonen wieder andere junge Muslime ihre religiöse Zugehörigkeit bewusst und fordern nachdrücklich öffentlich die Möglichkeit der Religionsausübung ein.
  • Eine letzte Strategie ist es, das Einhalten religiöser Gebote und Verbote als Zukunftsprojekt auf später aufzuschieben. Die Haltung, dass die Jugend das Leben geniessen und Chancen nutzen solle und dass ein frömmeres Leben eher etwas für ältere Leute sei, ist durchaus auch bei der Generation der Eltern und der Grosseltern verbreitet. Im Schweizer Kontext erlaubt sie es zugleich, muslimfeindlichem Gegenwind weitgehend auszuweichen.
Die Strategien junger Muslime und Musliminnen gegenüber dem ausgrenzenden Islamdiskurs sind also sehr unterschiedlich und je situativ von Elternhaus, Peers und eigenem religiösen Interesse abhängig. Gemeinsam ist bei den meisten, dass die verbreitete Muslimfeindlichkeit zu einem zwiespältigen Verhältnis zu Staat und Gesellschaft geführt hat. Einerseits schätzen sie die Möglichkeiten für Ausbildung, Beruf und Lebensstandard in der Schweiz. Andererseits erleben sie im konkreten Fall bisweilen, dass ihnen diese Möglichkeiten eben doch nicht so offenstehen, wie es das Selbstbild der offiziellen Schweiz vorsieht, da sie pauschal als «Ausländer» und «Muslime» etikettiert, nicht als Teil der Schweiz angesehen werden und oft trotz tadelloser Zeugnisse eine Lehr- oder Arbeitsstelle oder eine Wohnung nicht bekommen.

Erwartungen auch an die eigenen Verbände

Wahrzunehmen ist indes auch, dass junge Muslime und Musliminnen trotz allem gerade im persönlichen Umfeld immer wieder auch Aufmunterung, Förderung und Unterstützung erleben, so wie die 19-jährige Ferida:

«Und dann in der Mittelstufe allerdings hatte ich wirklich geniale Lehrpersonen, die mich gefordert haben. Aber nie mir das Leben irgendwie bewusst erschwerten oder ähnliches.» (Ferida)

Den erwähnten widerwärtigen Episoden zum Trotz sehen sie fast durchweg ihre weiteren Perspektiven in der Schweiz. So erhoffen sie sich für die Zukunft zuvorderst, dass sie samt ihrer Religion in Staat und Gesellschaft endlich als Teil des Landes wahrgenommen werden; dass sie sich als vollgültiger Teil der Gesellschaft fühlen dürfen, ohne die muslimische Seite ihrer Identität verstecken zu müssen. Sie fordern dazu nicht zuletzt an die Adresse der muslimischen Gemeinschaften und Verbände, sich stärker zu öffnen und vermehrt gesellschaftlich zu engagieren, um das Bild und die Wahrnehmung des Islams positiv zu verändern. Solch ein offensives Bemühen, sich konstruktiv als Teil von Staat und Gesellschaft der Schweiz zu verstehen, sehen viele junge Muslime zugleich als Weg zu einer besseren sozialen Anerkennung und gesellschaftlichen Integration von Islam und Muslimen. Jene, die bewusst dem garstigen Meinungsklima entgegentreten, werden dadurch womöglich zu aktiveren Staatsbürgern als Angehörige anderer Migrantenreligionen, die nicht vergleichbarer Ablehnung ausgesetzt sind. Wer sich von diesem Klima jedoch zu oft niederdrücken lassen muss, kann auf Dauer kaum zu einer positiven Gesamtsicht der Schweizer Gesellschaft finden.

So finden sich zwar innerhalb der muslimischen Bevölkerung der Schweiz nicht nur höchst unterschiedliche Arten, die eigene Religion zu praktizieren, sondern auch wertvolle Ressourcen, mit der herausfordernden Situation umzugehen. Zugleich sind diese Menschen und ihr Streben nach einem anerkennenden Zusammenleben auf tatkräftige Unterstützung von Behörden wie auch, vor allem, von nichtmuslimischen Bürgerinnen und Bürgern angewiesen, wenn es gilt, Muslimfeindlichkeit einzudämmen.

Link:
Forschungsprojekt «Imame, Rapper, Cybermuftis» (2017): www.unilu.ch/imracy