Autor
Frank Mathwig ist EKR-Mitglied und Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern sowie Beauftragter für Theologie und Ethik beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund. Frank.Mathwig@sek.ch
Muslimfeindlichkeit richtet sich nicht nur gegen die Diskriminierten selbst, sondern stellt die Fundamente der Demokratie in Frage. Der Staat macht es denjenigen, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen diffamieren, nach wie vor zu leicht. Drei Beobachtungen und zwei Herausforderungen.
1. Der Ausdruck «Muslimfeindlichkeit» steht für zwei prekäre gesellschaftliche Tendenzen: einerseits den pauschalisierenden, negativ konnotierten Umgang mit einer Glaubensgemeinschaft, und andererseits die abwehrende oder gar feindliche Haltung der gesellschaftlichen Mehrheit gegenüber einer Minderheit. Der zweite Aspekt weist auf ein viel weitreichenderes gesellschaftliches Defizit hin: Eine Gesellschaft, die sich weigert, einer Bevölkerungsgruppe offen und vorurteilsfrei zu begegnen, bricht mit dem fundamentalen demokratischen Egalitätsprinzip der rechtlichen und moralischen Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder. Menschen zum Verzicht auf die öffentliche Präsenz bestimmter Identitätsmerkmale – etwa ihrer Religion oder Kultur – zu zwingen bedeutet, ihnen die Anerkennung als Personen zu verweigern. Muslimfeindlichkeit richtet sich somit nicht nur gegen die Diskriminierten, sondern gegen die Idee der Demokratie selbst. Religiöser und kultureller Rassismus sind das Symptom für eine liberale Gesellschaft, die aus Willkür und Vorurteil ihre eigenen Fundamente in Frage stellt.
2. Die demokratischen Institutionen der Kritik und des Protests finden in den sozialen Netzwerken neue Kanäle. Diese unterlaufen die Verfahren und Codes demokratischer Auseinandersetzung. Der Protest wird ungebremst laut und entzieht sich den konstitutiven Spielregeln des demokratischen Disputs: Partizipation, Gegenrede, gleiche Augenhöhe und die Verpflichtung zu kritischer Selbstreflexion. Das antidemokratische Aushebeln des Diskurses in den sozialen Medien hat weitreichende Folgen, wie die politischen Debatten der letzten Jahre nicht nur in Europa zeigen: Eine Popularisierung der politischen Zielsetzungen, eine Radikalisierung politischer Forderungen und eine Infantilisierung politischer Konflikte, die immer weniger berechenbare Konfrontationen nach sich ziehen. Die sozialen Medien treiben die nationalen Politiken vor sich her. Die Themen «Muslime» und «Islam» eignen sich dabei besonders gut als Schmiermittel für eine Verrohung der politischen Auseinandersetzung.
3. Aus aufklärerischer Sicht appellieren säkular-laizistische Stimmen an eine Stärkung der Vernunft und eine Rationalisierung gesellschaftlicher Konflikte. Unter den Vorzeichen der «Rückkehr der Religion» wird die umgekehrte Perspektive viel aussichtsreicher. Es stellt sich die Frage, ob Muslimfeindlichkeit und interreligiöse Konflikte tatsächlich einer mangenden Rationalität geschuldet sind und nicht gerade umgekehrt die Folgen einer Rationalitätsüberforderung. Es wäre irrational zu fordern, dass Menschen auf Probleme stets rational reagieren und reagieren sollten. Das gilt für den persönlichen Bereich ebenso wie für öffentliche und politische Zusammenhänge. Die Säkularisierungserzählungen von der fortschreitenden Rationalisierung haben sich längst als Märchen entpuppt. Freilich hat in der Schweiz die religiöse Klientel gewechselt: leere Kirchen – volle Moscheen. Die Moscheen sind nicht Ausdruck einer von der Aufklärung weitgehend unberührten Religionsgemeinschaft (wie ständig und häufig falsch behauptet wird), sondern repräsentieren einen weltweiten Trend, der in den politischen Wissenschaften unter der Überschrift «Postsäkularismus» diskutiert wird. Wer heute – wie die grosse Mehrheit in der Schweiz ‒ weiter auf eine fortschreitende Säkularisierung hofft, setzt längst auf das falsche Pferd.
1. Der Politologe Claus Leggewie hat im Zusammenhang der religionspolitischen Kontroversen in Westeuropa um den Islam eine «Art Phantomschmerz der verblichenen eigenen Glaubensfähigkeit» diagnostiziert. Säkulare Gesellschaften würden davon unter dem Eindruck der «Glaubensgewissheit» ihrer zugewanderten muslimischen Mitglieder heimgesucht. Unter diesen Vorzeichen bildet die Muslimfeindlichkeit auch ein gesellschaftspolitisches Analgetikum bzw. eine Immunisierungsstrategie gegen den Phantomschmerz der eigenen religiösen Restwerte. Diese Vermutung wird durch einen radikalen Säkularismus ebenso bestätigt wie durch ritualisierte Formen des Hasses, die selbst quasi-religiöse Züge annehmen.
Die rationale Analyse von Konflikten und ihre deliberativ-diskursive Bearbeitung sind unverzichtbar. Die einseitige Fixierung darauf spielt aber unfreiwillig der Gegenseite in die Hände. Denn Muslimfeindlichkeit richtet sich in diffuser Weise gegen die Religion «selbst» und nicht – wie immer wieder beteuert wird – gegen die muslimische Kassiererin in der Migros und den muslimischen Mittelfeldstürmer im Fussballclub. Der dort stattfindenden Entpersonalisierung und Objektivierung von Religiosität begegnet man ebenso auf der Seite der wissenschaftlichen Analyse. Auch die Wissenschaften müssen begreifen lernen, dass der Glaube und die religiösen Überzeugungen von Menschen nicht darin bestehen, was die Beobachterin davon beobachtet oder was der Kritiker daran kritisiert. Politik, Gesellschaft und Wissenschaften dürfen sich nicht darauf beschränken, religiöse Menschen nach objektiven Rastern zu beschreiben und zu taxieren. Sie müssen als religiöse Subjekte wahrgenommen werden, die selbst über ihren Glauben und ihre religiösen Einstellungen Auskunft geben. Subjektivierung der Wahrnehmung ist immer noch das wirksamste Mittel gegen verobjektivierende Verunglimpfung.
2. Die Politik in der Schweiz muss ihren säkularen Dornröschenschlaf beenden und endlich in der postsäkularen Gesellschaft ankommen. Der Burgfriede aus den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts, der die religiösen Angelegenheiten den Kantonen übertrug und dem Bundesstaat religiöse Ignoranz diktierte, taugt nicht mehr. Die zögerliche Öffnung des Bundes für die religiösen Belange seiner Bürgerinnen und Bürger muss konsequent weitergegangen und verstärkt werden. Wer in der politischen Wahrnehmung nicht auftaucht und vom Staat keine sichtbare Anerkennung erhält, wird umso leichter zur Zielscheibe von Verdächtigung, Missbilligung und Diskriminierung. Der Staat macht es denjenigen, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen willkürlich diffamieren und herabsetzen, nach wie vor viel zu leicht. Dagegen muss er selbst an der gesellschaftlichen Präsenz der muslimischen Bevölkerung interessiert sein, nicht nur in Moscheen, sondern im öffentlichen Gespräch mit den anderen Religionsgemeinschaften und vor allem im sichtbaren und respektvollen Austausch mit der Politik.
Sortir de notre torpeur séculière
(Kurzversion)
Mettere fine all’illusione della laicità a tutti i costi
(Kurzversion)