Autor
Der Ökonom und Theologe Wolfgang Bürgstein ist Mitglied der EKR und Generalsekretär der Schweizerischen Nationalkommission Justitia et Pax – einer Stabskommission der Schweizer Bischofskonferenz. wolfgang.buergstein@juspax.ch
Die Schweiz tut sich schwer mit dem Thema Islam. Die bessere Integration von Muslimen in die Mehrheitsgesellschaft müsste aber im Interesse des Staates liegen. Dazu braucht es mehr offenen Austausch sowie Anerkennung und Respekt für die Leistungen, die muslimische Vereine und Gruppen erbringen. Die Tagung war ein Schritt in diese Richtung. Acht Beobachtungen und Schlussfolgerungen.
1. Die verschiedenen Beiträge im Rahmen der Veranstaltung vom 11. September in Freiburg haben deutlich gezeigt, dass Muslimfeindlichkeit nicht nur eine Vermutung, sondern ein in verschiedenen Bereichen gut belegbares Faktum darstellt: im gesellschaftlichen Alltag, in den politischen Auseinandersetzungen und in den Medien. Wir – die Schweizer Gesellschaft als Ganze – tun uns schwer mit dem Thema Islam, vor allem in der Öffentlichkeit. Der Islam ist in vielen Bereichen ein emotional aufgeladenes Thema. Beispiele in den Social Media zeigen, wie weit diese Emotionalität gehen kann. Muslimfeindlichkeit ist deshalb nicht nur ein akademisch relevantes, sondern auch ein gesellschaftspolitisch herausforderndes Thema.
2. Die öffentlichen und halböffentlichen Debatten über den Islam in der Schweiz zeichnen ein einseitiges Bild von den Muslimen in der Schweiz. Pauschalisierungen und eine partielle Wahrnehmung sind dafür probate Mittel. Hierzu passt, dass Muslime (ähnlich den Juden) als Gruppe über Religion identifiziert und stigmatisiert werden. Dem ist entgegenzuhalten, dass es den Islam gar nicht gibt. Unterschiedlichkeiten in der theologisch-juristischen Verfasstheit, in den national-kulturellen Selbstverständnissen und unter den konkret verfassten Vereinen und Verbänden lassen generelle Urteile nicht zu.
3. Das Thema «Muslimfeindlichkeit» lenkt die Aufmerksamkeit schnell auf die Adressaten dieser Feindlichkeit: die Muslime. Bei dieser Blickrichtung besteht die Gefahr, dass vor allem über, aber nicht mit den Muslimen gesprochen wird. Ein echter Austausch kann so nicht zustande kommen. Auch bei echtem Interesse an einer Lösung dieses Problems, können die Muslime gerade dadurch in einer Opferrolle festgeschrieben werden. Wirksame Ansätze gegen Muslimfeindlichkeit müssen aber auf Augenhöhe und mindestens im Dialog zwischen Absender und Adressaten dieser Feindlichkeit stattfinden.
4. Die Religion der Muslime manifestiert sich in der Öffentlichkeit in unterschiedlichen Facetten: Hidschab, Tschador, Burkini (selten Burka oder Niqab), Moscheen und Minarette. Diese sichtbare Präsenz in der Öffentlichkeit irritiert in einer säkularen Gesellschaft, die Religion zunehmend zur Privatsache erklärt hat. Vor diesem Hintergrund kann Muslimfeindlichkeit auch verstanden werden als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit, unterschiedliche religiöse Symbole und Ausrichtungen als Widerspiegelung gesellschaftlicher Vielfalt zu verstehen. Die Narrative, die in der Muslimfeindlichkeit zum Ausdruck kommen, sagen so mehr über den religiösen Analphabetismus der Mehrheitsgesellschaft(-en) aus als über die reale Situation der Muslime in der Schweiz.
5. Im Anschluss an den französischen Kulturanthropologen und Religionsphilosophen René Girard wäre im Zusammenhang mit Muslimfeindlichkeit die These des «Sündenbockphänomens» genauer zu untersuchen. Girard hat herausgearbeitet, dass die innere Zerrissenheit einer Gemeinschaft/Gesellschaft durch die Bestimmung eines Sündenbocks Stabilisierung erfahren kann. Vor diesem Hintergrund wäre Muslimfeindlichkeit nicht bloss ein Hinweis auf ungelöste Probleme auf Seiten der Muslime, sondern ein untauglicher Versuch, die gesellschaftliche Komplexität zulasten der Muslime zu reduzieren und die Schuld für vorherrschende Probleme bei den Anderen zu suchen.
6. Gemäss dem Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde, einem ehemaligen deutschen Bundesverfassungsrichter, haben freiheitliche, säkulare Staaten das Problem, dass sie soziales Kapital selbst nicht garantieren können. Dafür braucht es andere Akteure als den Staat. Der demokratische Staat kann demnach nur auf die demokratische Gesinnung seiner Bürger setzen, sie aber nicht erzwingen. Die bessere Integration von Muslimen in die Mehrheitsgesellschaft müsste deshalb im Interesse des Staates und der Gesamtgesellschaft liegen. Die Integrationsleistungen muslimischer Vereine und Gruppen sind unter diesem Aspekt noch nicht hinreichend als Chance begriffen worden. Muslime werden im Allgemeinen primär als Problem und nicht als Chance begriffen.
7. Der allergrösste Teil der Muslime in der Schweiz hat einen Migrationshintergrund. Dieser Hintergrund hat unterschiedliche Facetten und Ausprägungen. Die Muslime in der Schweiz erfahren eine migrationsbedingte Vielfalt des Islam, wie sie sie wohl in den meisten Fällen von ihrer Herkunft her nicht gekannt haben dürften. Samuel Behloul spricht deshalb in seinem Beitrag vom Universalcharakter des Islam als neue Erfahrung. Diese Erfahrung ist Herausforderung und Chance zugleich. Während die muslimischen Migrantinnen und Migranten diese neue Erfahrung in ihr bisheriges Welt- und Religionsbild integrieren müssen, öffnen sich neue Gesprächs- und Austauschmöglichkeiten im Rahmen der eigenen, muslimischen Religion, aber auch mit anderen Religionen und gesellschaftlichen Gruppen. Dieser Chancenaspekt wurde in der bisherigen Diskussion um Muslime in Europa und in der Schweiz ebenfalls zu wenig diskutiert.
8. Um die Beobachtungen und Herausforderungen, die sich aus der Tagung aus meinem Blickwinkel ergeben haben, abzuschliessen, sei besonders hervorgehoben, dass Muslime nicht nur oder vor allem unter Verdacht stehen dürfen. Es braucht vielmehr den Austausch in offenen Gesprächsforen sowie Anerkennung und Respekt für die Leistungen, die muslimische Vereine und Gruppen in unserer Gesellschaft erbringen. In dieser Hinsicht sind höchstens erste Schritte gemacht. Die Tagung zur Muslimfeindlichkeit war ein weiterer.