TANGRAM 40

Vermessen, bewacht, befragt – und problematisiert. Ein Versuch der Verortung eines allgegenwärtigen Diskursphänomens

Autor

Samuel M. Behloul ist Titularprofessor für Religionswissenschaft am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich und Fachleiter Christentum am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID). samuel.behloul@ziid.ch

Wer und wie sind Muslime in der Schweiz? Die Islam-Debatte speist sich hierzulande aus spezifischen Narrativen, die sowohl die Wirklichkeit des muslimischen Lebens in der Schweiz als auch den tiefgreifenden Wandel verzerrt darstellen.

Über den Islam und die Muslime wird in der Schweiz viel gesprochen und geschrieben. Die sog. Islam-Frage oder das Islam-Problem hat in den letzten Jahren eine regelrechte Diskursexplosion erzeugt. Muslime sind im Visier. Sie werden vermessen, bewacht, befragt und im Grossen und Ganzen problematisiert. Praktisch im Monatstakt werden quer durch Westuropa Umfragen publiziert, die einerseits exemplifizieren sollen, dass Muslime in Europa grossmehrheitlich loyal, integriert und von ihren nichtmuslimischen Nachbarn akzeptiert werden. Dem gegenüber stehen wiederum Zeitungskommentare und Berichte, die wiederum das Gegenteil beweisen sollen und die positiven Umfrageergebnisse generell anzweifeln. Die Themenpalette ist breit. Sie umfasst praktisch das gesamte Spektrum von gesellschaftlich und politisch relevanten Fragestellungen. Mit Blick auf die Schweiz lässt sich feststellen, dass sich die Islam-Debatte hierzulande aus spezifischen Narrativen speist, die sowohl die Wirklichkeit des muslimischen Lebens in der Schweiz als auch den tiefgreifenden Wandel und Veränderungsprozesse in der Schweizer Gesellschaft generell verzerrt darstellen.

Wer und wie sind also Muslime in der Schweiz und wo genau sind sie innerhalb der Schweizer Gesellschaft zu verorten? Gemäss den Semantiken, die die Islam-Debatte in der Schweiz seit Jahren dominieren, liesse sich diese Frage eigentlich einfach beantworten. Muslime in der Schweiz sind die stärkste nichtchristliche Religion. Ihre Präsenz und Sichtbarkeit stehen paradigmatisch für den tiefgreifenden Wandel in der religiösen und soziokulturellen Landschaft der Schweiz. Dieser Wandel wird entsprechend mit wirkmächtigen Narrativen wie religiöse Pluralisierung, Ent-Christianisierung und (schleichende) Islamisierung beschrieben.

Weder schleichende Islamisierung noch Ent-Christianisierung

Dass sich die religiöse Landschaft in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend und sicherlich auch unumkehrbar verändert hat, ist statistisch erwiesen. Dieser Prozess hat aber weder mit der Einwanderung von Muslimen begonnen, noch hängt er heute ausschliesslich mit der Präsenz des Islam in der Schweiz zusammen. Die Ergebnisse einer Auswertung der Schweizer Volkszählung von 2010 entlang der Kriterien der Religionszugehörigkeit durch das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut SPI in St. Gallen zeigen dies. Aus der Auswertung geht nämlich hervor, dass über 50 Prozent aller Migrantinnen und Migranten in der Schweiz einer christlichen Tradition angehören, die Mehrheit davon (knapp 40 Prozent) ist römisch-katholisch. Die Zahl der Katholiken hat migrationsbedingt stark zugenommen, so dass die traditionell protestantisch geprägten Städte wie Zürich und Genf inzwischen mehrheitlich katholisch sind. Mit einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 20 Prozent bilden die sog. Konfessionslosen eine Gruppe, die viermal grösser ist als die Gemeinschaft der Muslime, deren statistischer Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz sich bei ca. 5 Prozent stabilisiert hat. Und auch unter zugewanderten Personen ist der Anteil der Konfessionslosen höher als die Zahl der Muslime. Er beträgt 25 Prozent.

Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Blick auf die Veränderungsprozesse innerhalb der Schweizer Religionslandschaft als Erstes weder von einer (schleichenden) Islamisierung noch von einer Ent-Christianisierung der Schweiz sprechen. Und als Zweites zeigt die zunehmende Zahl der Konfessionslosen, dass diese Veränderungsprozesse nicht ausschliesslich mit der Zuwanderung zusammenhängen. Sie verdanken sich auch einem bereits seit Jahrzehnten andauernden tiefgreifenden innergesellschaftlichen und innerkirchlichen Wandel infolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, Individualisierung, Kirchenaustritten und innerkirchlicher Diversifizierung. Die statistische Erfassung der Schweizer Religionslandschaft erlaubt uns somit einen kritischeren bzw. differenzierteren Blick auf die erwähnten wirkmächtigen Leitnarrative der Islam-Debatte. Religiöse Pluralisierung ist mehr als blosses Nebeneinander von verschiedenen Religionen. Die schon wenigen statistischen Daten zeigen uns, dass wir es in der Schweiz zunächst mit grosser Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft aber auch der religiösen Milieus zu tun haben.

Das Phänomen der viel behaupteten Ent-Christianisierung oder auch der Ent-Kirchlichung muss deutlich differenzierter betrachtet werden. Aufgrund der Migration und gesellschaftlicher Dynamiken haben wir es innerhalb des Christentums in der Schweiz in erster Linie mit der historisch erst- und einmaligen binnenkirchlichen Diversifizierung zu tun, die – nebenbei bemerkt – auch unsere angestammten kirchlichen Zugehörigkeitsvorstellungen ordentlich auf den Kopf stellt. Und dank Migration werden die Kirchen in der Schweiz eigentlich immer voller. Oder man kann es auch so formulieren: Neben vielen leeren Kirchen in der Schweiz gibt es dank Migration samstagsabends oder sonntagsvormittags sehr viele zum Bersten volle Kirchen. Und zum gesellschaftspolitisch vielleicht wirkmächtigsten Narrativ der (schleichenden) Islamisierung lässt sich sagen, dass es - trotz einer andauernden Islamisierung der politischen und der Medienagenda – schon rein statistisch gesehen falsch ist, von einer Islamisierung der Schweiz zu sprechen.

Muslime als Migrationsphänomen und religiöse Minderheit

Muslime in der Schweiz stellen in ihrer Mehrheit ein Migrationsphänomen dar und unterscheiden sich darin zunächst kaum von Hindus, Buddhisten und verschiedenen anderen christlichen Gemeinschaften, deren Präsenz in der Schweiz auf die Zuwanderung zurückgeht. Ähnlich wie die christlichen Einwanderer bilden auch Muslime in der Schweiz weder ethnisch noch kulturell oder sprachlich oder konfessionell eine Einheit. Und wie die christlichen Zuwanderer, insbesondere die katholischen und die orthodoxen, sind auch die religiös aktiven Musliminnen und Muslime in der Schweiz zwecks Erfüllung ihrer religiösen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse in erster Linie in Vereinen mit einem klarem ethno-kulturellen und sprachlichen Bezug organisiert. Anders jedoch als Angehörige nichtmuslimischer Migrationsgemeinschaften sind Muslime seit Jahren das Thema öffentlicher und politischer Debatten. Dabei geht es nicht bloss um die Frage nach der Integration. Die Präsenz von Muslimen wird auch im Kontext der öffentlichen Sicherheit debattiert. Man kann also das, was man als Muslime in der Schweiz wahrnimmt oder zu definieren versucht, offenbar sehr unterschiedlich verorten. Muslime in der Schweiz sind ein Migrationsphänomen, sie sind eine religiöse Minderheit, weitgehend vergleichbar mit anderen Migrationsgemeinschaften. Muslime in der Schweiz sind mehrheitlich loyal, unproblematisch, mit Blick auf die öffentlichen und politischen Debatten aber offenbar auch ein Sonderfall und eine potenzielle Gefahr.

Vielfalt des Islam als Herausforderung für die Gesellschaft und die Muslime selbst

Für mich besteht das relevanteste Merkmal dessen, was unter der Kategorie Muslime in der Schweiz debattiert und vielfach auch problematisiert wird, im eigentlichen Profil des Islam in der Schweiz als ein vielfältiges Phänomen. Und hier möchte ich einen Aspekt hervorheben, der meiner Ansicht nach zu wenig zur Kenntnis genommen wird – zumindest werden seine Implikationen sowohl innermuslimisch als auch im Bereich gesellschaftlicher Islam-Debatten kaum beachtet. Die Migrationsströme der letzten Jahrzehnte haben in der Schweiz nämlich eine kulturelle und konfessionelle Vielfalt innerhalb des Islam in der Schweiz – aber z.B. auch innerhalb etablierter Kirchen – zur Folge, die im Schweizer Kontext zweifelsohne historisch erst- und einmalig ist. Religionsgeschichtlich betrachtet stellen solche Prozesse zunächst einen Normalfall dar. Denn Migration und Religionsgeschichte stehen in einem konstitutiven Verhältnis zueinander. Ohne Migration wäre zum Beispiel die Verbreitung religiöser Botschaften nicht möglich gewesen. Mit der Migration als treibende Kraft der Religionsgeschichte ging aber zugleich auch die Herausforderung einher, die eigene Botschaft und den Wahrheitsanspruch in neue kulturelle und soziopolitische Kontexte zu übersetzen. Dies führte notwendigerweise nicht zu einer Vereinheitlichung, sondern zu einer immer grösser werdenden Vielfalt innerhalb der Religionstraditionen. Wenn Migration religionshistorisch aber auch gegenwartsbezogen betrachtet eine so zentrale Antriebskraft für die Formierung und Verbreitung von Religionen ist, was bedeuten dann die heutigen Migrationsströme für das zukünftige Selbstverständnis und das Profil des Islam zum Beispiel in der Schweiz? Dass Muslime in der Schweiz ethnokulturell und sprachlich eine vielfältige Gemeinschaft darstellen, ist inzwischen zwar bekannt. Aber diese Vielfalt wird in der Regel nur dann erwähnt, wenn es beispielsweise um das Thema der Anerkennung des Islam geht. Hier wird die Vielfalt des Islam als grosses organisationstechnisches aber auch religions-ideologisches Problem wahrgenommen: Mit wem sprechen wir? Wer sind die Ansprechpartner? Wer repräsentiert die Musliminnen und Muslime in der Schweiz verbindlich? Die Vielfalt des Islam in der Schweiz wird aber auch dann angesprochen, wenn es darum geht, die problematischen und die unproblematischen Gemeinschaften, die gut integrierbaren von wenig oder kaum integrierbaren zu unterscheiden.

Mir geht es aber um einen anderen Aspekt der muslimischen Vielfalt. Die in der Schweiz lebenden Musliminnen und Muslime begegnen nicht nur anderen nichtmuslimischen Religionstraditionen. Sie begegnen auch kulturell, historisch und soziopolitisch bedingt anders ausgeprägten Formen der Praxis und der Auslegung des Islam. Sie machen dabei die irritierende Erfahrung, dass sich die sonst für selbstverständlich gehaltene Universalität des Islam nicht einfach in der Art und Weise erschöpft, wie man diesen Islam auf der Basis eigener kultureller Prägung über Generationen lebt, vererbt und praktiziert.

Während die Vielfalt einerseits das konstitutive Element einer Religionstradition mit Universalanspruch darstellt, bedeutet sie andererseits – z.B. jetzt konkret in der Schweiz – auch eine Herausforderung, für Muslime selbst aber auch für die Gesellschaft insgesamt.

Die kulturell verschiedenen muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz stehen vor einer spezifischen Herausforderung. Es ist die Universalität ihrer eigenen Religion. Sie müssen mit einer islamischen Pluralität umzugehen lernen, die in dieser Form an einem Ort für sie ein historisches Novum darstellt. Nicht die Frage, inwieweit Sharia und die schweizerische Rechtsordnung miteinander kompatibel sind, steht hier Vordergrund, sondern zunächst die Frage, können und wollen Muslime ihr internes kulturelles und religiös-praktisches Reichtum und Vielfalt bewahren.

Die Zukunft des Islam in der Schweiz kann weder in der Rückkehr zu einer angeblichen Essenz des Islam noch in der Schaffung eines ausschliesslich liberalen oder wie auch immer konzipierten fortschrittlichen Islam bestehen. Denn solche Lizenzierungen des Islam haben zur Folge, dass immer ein Teil der Muslime ausgeschlossen wird oder sich ausgeschlossen fühlt, und das immer nur bestimmte Einzelpersonen oder bestimmte Personenkreise für Muslime sprechen, während sich Muslime von ihnen kaum bis gar nicht vertreten fühlen. Dieselbe innermuslimische Vielfalt bereitet offenbar auch der Gesellschaft und der Politik grosse Mühe. Sie scheint der Sand im Getriebe einer säkular-liberalen Integrations- und Akzeptanzmatrix zu sein. Diese Matrix operiert – wie wir das in der Schweiz seit Jahren beobachten – auch mit wertenden Lizenzierungen wie liberale Muslime, gemässigte Muslime, wertkonservative Muslime‚ zeitgemässe Muslime, fortschrittliche Muslime usw. Solche Zuschreibungen sind im Endergebnis auch Ausschlussmechanismen. Es wird entschieden, wer von den Muslimen anerkennungswürdig ist und wer nicht, mit wem man reden möchte/darf und mit wem nicht, welche Gemeinschaft wird zum Integrations-Modell für alle anderen usw. Für die Politik und die Gesellschaft stellt sich hier die grundsätzliche Frage: Soll und kann ein vielfältiges Phänomen wie Muslime in der Schweiz in einer individualisierten Gesellschaft zu einer Kompaktreligion gemacht werden, die staatlich und zivilgesellschaftlich verwaltbar, handhabbar und auch zähmbar wird? Migration und die dadurch bedingte Universalität des Islam in der Schweiz werden somit zu einer Anfrage sowohl an Muslime selbst als auch an die Gesellschaft und Politik als Ganzes. Vor allem für eine Gesellschaft, die so ergiebig aus der Selbstwahrnehmung als liberal und tolerant lebt, gilt es, die eigene Fähigkeit und Bereitschaft, mit der muslimischen und gesamtgesellschaftlichen Vielfalt umzugehen, neu zu überprüfen. Wie notwendig das ist, zeigen die Islamdebatten und die sie begleitenden kantonalen und nationalen Initiativen und Abstimmungen. Hier wird nämlich offensichtlich, wie schnell unser Bekenntnis zur (Wahl-)Freiheit des Individuums an seine Grenzen stösst, etwa beim Anblick eines Kopftuchs, einer – wenn auch nur imaginär existierenden – Burka, oder eines – wenn auch nur symbolischen – Minaretts.