TANGRAM 38

«Rassismus geht weit über die juristische Frage hinaus».

Die 33-jährige Juristin Helena Herrera leitet die Anlaufstelle für Rassismusberatung und –prävention von Caritas Schweiz in Freiburg (www.serespecter.ch). Nach dem Rechtsstudium bildete sie sich in interkultureller Kommunikation weiter und arbeitete unter anderem im Integrationsbüro der Stadt Lausanne, an der dortigen Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit und bei der Eidgenössischen Fachstelle für Rassismusbekämpfung.
hherrera@caritas.ch

Der 40-jährige Tarek Naguib ist Jurist mit Schwerpunkt Antidiskriminierungsrecht. Er lehrt an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, der Universität Freiburg i.Ue. und der HU Berlin. Zu seinen Themen gehören Rassismus und Recht, Legal Gender Studies, Disability Legal Studies, Intersektionalität und Postkategorialität. Er arbeitet als Gutachter zu Diskriminierung und gibt Trainings für Behörden und NGOs.
tarek.naguib@gmail.com

Seit der Publikation des Rechtsratgebers im Jahre 2009 bietet die Fachstelle für Rassismusbekämpfung Weiterbildungsmodule an zum Thema Interkulturelle Konflikte und Diskriminierung gerecht und mit dem Recht lösen. Geleitet wird das Angebot in der Deutschschweiz von Tarek Naguib und in der Romandie von Helena Herrera.

In den letzten sieben Jahren haben Sie rund 80 Kurse durchgeführt. Welches Publikum kommt zu Ihnen?

Tarek Naguib: Die Zusammensetzung der Kursteilnehmenden ist sehr vielfältig. Mehrheitlich handelt es sich um Mitglieder von Beratungsstellen oder NGOs, die zum Thema bereits aktiv sind, die sich aber noch fit machen oder generell sensibilisieren möchten.

Helena Herrera:Dieses Publikum gibt es in der Romandie auch. Mehrheitlich besuchen unsere Kurse jedoch Mitglieder aus kantonalen oder kommunalen Verwaltungen, sei es aus der Justiz, dem Strafvollzug, den Migrations- oder Sozialbehörden.

Tarek Naguib:Diese Teilnehmergruppe findet sich auch in der Deutschschweiz, sie stellt aber nicht die Mehrheit. Ich denke, der Unterschied ist nicht sprachregional zu erklären, sondern hat eher mit unserer unterschiedlichen Vernetzung und Priorisierung, aber auch schlicht mit Zufall zu tun.

Hat sich die Zusammensetzung der Teilnehmenden im Laufe der Jahre verändert?

Tarek Naguib:Grundsätzlich nein. Was sich aber feststellen lässt: Während bei NGOs und Gewerkschaften eine gewisse Routine besteht, das Thema Rassismus zumindest an der Oberfläche anzugehen, ist das Thema bei den Behörden noch nicht angekommen.

Helena Herrera:Ja, das stelle ich auf fest. Für die Behörden schlagen wir die Weiterbildungen vor, bei den NGOs kommen die Anfragen von selbst.

Weshalb muss man bei den Behörden mehr lobbyieren?

Tarek Naguib:Die Behörden haben ganz klar Widerstände, ihren eigenen strukturellen Rassismus unter die Lupe zu nehmen.

Helena Herrera:Das sehe ich auch so. Kommt dazu, dass wir es bislang nie geschafft haben, an Unternehmen der Privatwirtschaft heranzukommen, obwohl dies durch die Fachstelle für Rassismusbekämpfung bereits früher versucht wurde. Das ist ein Misserfolg.

Welche Fragestellungen beschäftigen die Teilnehmenden in Ihren Kursen am stärksten?

Helena Herrera:Es gibt zwei unterschiedliche Motivationen. Einerseits kommen Leute, die bereits sensibilisiert sind und ihre Kenntnisse vertiefen und neue Instrumente kennenlernen möchten. Andere kommen mit grundsätzlichen Fragen zum Umgang mit Personen aus anderen Kulturen und erhoffen sich Werkzeuge für konkrete Situationen.

Tarek Naguib:Interessant finde ich, dass auch bei denjenigen, die schon sensibilisiert sind, relativ selten am Anfang das Bedürfnis steht, den eigenen strukturellen Rassismus zu verstehen, also sich die Frage zu stellen: Wie ist meine Institution in den Rassismus verstrickt, inwieweit haben Organisationskulturen und -praktiken diskriminierende Wirkungen, und welche Folgen hat das für mein Handeln? Die Erkenntnis, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist, reift erst mit der Zeit. Häufig wünschen die Teilnehmenden konkrete Handlungsanleitungen im Umgang mit ihren individuellen Vorurteilen. Erst mit der Zeit merken sie, dass die Probleme komplexer sind und sie – aber nicht nur sie – eine Mitverantwortung für diese Komplexität tragen.

Helena Herrera:Ich denke häufig darüber nach, wie ich die Teilnehmenden dazu bringen kann, über ihren Anteil an der Verantwortung in solchen Situationen zu reflektieren. Vor allem dann, wenn sich die gleiche Situation ständig wiederholt. Dann frage ich die Leute, ob nicht sie selber das Stereotyp produzieren, und bringe sie dazu, über ihre Vorurteile nachzudenken. Das führt oft zu Aha-Erlebnissen.

Kann man in konkreten Fällen eine Veränderung bewirken?

Tarek Naguib:Bereits durch die Diskussion in der Gruppe entstehen immer wieder gute Lösungsansätze. In gewissen Fällen kann es den Leuten auch helfen zu erkennen, dass ein Problem nicht nur mit ihnen zu tun hat und dass auch andere – zum Beispiel die Vorgesetzen – die Verantwortung übernehmen müssen.

Helena Herrera:Auch bei uns kommt es immer wieder vor, dass wir in der Gruppe gute Lösungsansätze finden. Manchmal erkennen die Teilnehmenden zum Beispiel, dass die Ursache von unguten Entwicklungen in der eigenen Haltung und im sogenannten Pygmalion-Effekt (der Wirkung von Erwartungen, Anm. der Red.) von Vorurteilen liegt. Sie denken dann über Möglichkeiten nach, das eigene nonverbale Verhalten zu verändern und so die Entwicklung einer Situation positiv zu beeinflussen.

Haben sich die Kursinhalte in den letzten Jahren verändert? Sind neue Themen hinzugekommen?

Helena Herrera:Als wir 2009 mit den Kursen starteten, stand der juristische Aspekt noch stark im Vordergrund, weil wir die Kurse damals ja auf der Basis des Rechtsratgebers lanciert hatten. Im Laufe der Zeit hat sich die Fragestellung ausgeweitet, und wir behandeln mehr kulturelle Fragen. Ich investiere viel Zeit in den Abbau von Vorurteilen, weil diese zum Eckpfeiler von Rassendiskriminierung geworden sind. Ohne Vorurteile gibt es keine Rassendiskriminierung. Ich spreche hier nicht vom strukturellen Rassismus auf gesellschaftlicher Ebene, der nicht unbedingt in Vorurteilen begründet ist. Ohne Bewusstsein über Vorurteile nützt aber das Arbeiten zu Diskriminierung nichts.

Tarek Naguib:Tatsächlich haben wir im Laufe der Zeit gemerkt, dass wir uns nicht nur über das Recht unterhalten können, sondern dass wir zunächst über Rassismus, Stereotype und institutionelle Praktiken sowie ihre Auswirkungen sprechen müssen. Der Zugang zum Recht für Betroffene bleibt aber ein wichtiges Motiv für den Kurs, und darauf weise ich die NGOs und Beratungsstellen auch immer wieder hin.

Helena Herrera:Auch ich erinnere vor allem die Behördenmitglieder in den Kursen immer wieder daran, dass es in der Schweiz einen rechtlichen Rahmen gibt und dass sie sowohl als Mitglieder einer Behörde wie auch als Individuen in der Pflicht stehen, die rechtlichen Bestimmungen anzuwenden.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die Weiterentwicklung des Angebotes?

Helena Herrera:Das ist ein ständiger Entwicklungsprozess. Obwohl man am Inhalt nicht viel ändern sollte, denke ich derzeit darüber nach, das Angebot nicht mehr als Kurs zu bezeichnen. Dieser Begriff erweckt den Eindruck, dass die Kursleitung Antworten liefern soll. Es sollte eher in die Richtung von Austausch-Workshops gehen, in deren Rahmen wir eine Reflexion anleiten und begleiten, anstatt vertikal Informationen zu vermitteln. Damit möchten wir auch ein Zielpublikum ansprechen, das keine Lust darauf hat, dass man ihm sagt, was es zu tun hat, sondern vielmehr selber Handlungsoptionen passend zu seiner beruflichen Realität entwickeln möchte.

Tarek Naguib:Das sehe ich auch so. Es braucht Methoden, die einen kulturellen Wandel ermöglichen und Institutionen und Behörden dazu bringen, Verantwortung für das Thema zu übernehmen. Es sollte nicht passieren, dass mich die Integrationsdelegierte eines Kantons anruft, weil sie noch ein dreistündiges Zeitfenster für einen Sensibilisierungskurs hat. Die Behörden müssen die Verantwortung für das Thema intern übernehmen. Leider braucht es oft einen Skandal, damit überhaupt eine Auseinandersetzung entsteht. So beschäftigt sich die Stadt Zürich mit Racial Profiling, nachdem es zwei extreme Vorfälle gegeben hat – davon betraf einer einen bekannten Fussballer des FC Zürich, was für einen Medienwirbel sorgte. Nicht nur, aber entscheidend deswegen kam das Thema auf die Agenda.

Helena Herrera:Auch ich bin überzeugt, dass Erfahrungsberichte von Betroffenen, die in der Öffentlichkeit für Aufsehen sorgen, dazu beitragen, dass man sich überhaupt mit dem Thema befasst. Ich arbeite auch in der Beratung von Diskriminierungsfällen und halte sehr viel vom Instrument der Erfahrungsberichte Betroffener. Denn sie sind die Quelle für unsere Arbeit.

Braucht es weitere Instrumente?

Tarek Naguib:Wichtig wäre auch, die Kurse transdisziplinär auszugestalten. Wir haben das im Ansatz versucht, aber eigentlich sind wir ja beide Juristen. Bei der Sensibilisierung von Beratungsstellen zum Beispiel kommt es darauf an, ob es eher um psychosoziale Beratung, um sozialarbeiterische Intervention oder um juristische Beratung geht. Es gibt eine Tendenz zu klaren Abgrenzungen und den Wunsch zu klaren Trennungen, was der Komplexität der Probleme nicht gerecht wird. Rassismus geht weit über die juristische Frage hinaus.

Helena Herrera:Allgemein ist festzustellen, dass es an Kompetenz zur Frage der Rassendiskriminierung und ihrer verschiedenen Formen mangelt. Viele Leute wissen viel über Interkulturalität, aber wenig über Rassendiskriminierung. Dazu gehören nebst der juristischen auch die historische und psychosoziale Dimension.

Tarek Naguib:Wichtig ist mir auch noch der Aspekt der Intersektionalität. Rassismus hat immer auch mit Geschlecht und anderen sensiblen Persönlichkeitsmerkmalen wie das Lebensalter oder eine Behinderung zu tun. Und es ist immer noch sehr zufällig, wie sensibel man auf solche Aspekte reagiert. Von Racial Profiling sind vor allem Schwarze betroffen. Aber es betrifft auch Frauen. Es gibt viele Fälle von multiplem Rassismus, obwohl die meisten Beratungsstellen vergleichsweise wenige Fälle dokumentieren. Da besteht ebenfalls Handlungsbedarf.