TANGRAM 37

Frühkindliche Bildung zu einem wertschätzenden Umgang mit Vielfalt

Unterschiede nicht tabuisieren

Autorin

Doris Frei ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Marie Meierhofer Institut für das Kind.
frei@mmi.ch

Wenn Kinder lernen sollen, Vielfalt zu respektieren, reicht es nicht, sie in gemischten Gruppen spielen zu lassen. Vielmehr müssen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gezielt thematisiert und eine vielfältige, anregungsreiche Lernumgebung gestaltet werden.

Bereits früh nehmen Kinder Unterschiede zwischen Menschen wahr. Wie sie damit umgehen, hängt in einem hohen Mass davon ab, wie ihre nächsten Bezugspersonen Gemeinsamkeiten und Unterschiede thematisieren und werten. Sollen Kinder lernen, Vielfalt zu respektieren, so benötigen sie vielfältige Gelegenheiten, um damit vertraut zu werden. Dazu reicht es nicht, wenn in der Kindertagesstätte, in der Spielgruppe oder auf dem Spielplatz möglichst viele unterschiedliche Kinder zusammenkommen. Damit Kinder eine positive Haltung gegenüber Unterschieden entwickeln können, bedarf es gezielter und aktiver Interventionen der Erwachsenen (Richter). Diese können auf verschiedenen Ebenen stattfinden und beginnen bereits damit, dass Unterschiede nicht ignoriert werden.

Strategien der Gleichbehandlung, bei denen Unterschiede zwischen den Kindern tabuisiert werden, sind problematisch und entsprechen nicht der Realität (Weltzien). Vielmehr soll sich jedes Kind mit seinen Fähigkeiten einbringen können, sich zugehörig fühlen und dabei eine individuelle Begleitung erhalten, welche seinen Interessen, Fähigkeiten, Bedürfnissen und weiteren individuellen Merkmalen Rechnung trägt (Wustmann-Seiler &
Simoni). Bezugspersonen müssen die Aufmerksamkeit der Kinder bewusst auf Aspekte der Vielfalt lenken. Indem sie verbindende und unterscheidende Merkmale benennen und thematisieren, unterstützen sie junge Kinder dabei, nach und nach ihre Vorstellung der Welt zu konstruieren, ihre Eigenständigkeit zu entdecken und dabei ihre Identität zu entwickeln (Focali et al.). Dabei ist es wichtig, zunächst von den Gemeinsamkeiten auszugehen, bevor Unterschiede thematisiert werden. Dies stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und gibt jedem Kind die Gewissheit, dazuzugehören.

Ausgrenzung nicht dulden

Lernerfahrungen in der frühen Kindheit sind immer an konkrete, alltägliche Situationen des Kindes gebunden. Sie brauchen einen Bezug zu dem, was das Kind erlebt und beschäftigt. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, welche die Kinder in ihrem Lernen unterstützen und begleiten, deren verbale und nonverbale Signale in Bezug auf Unterschiedlichkeiten aufmerksam wahrzunehmen und sensibel darauf einzugehen. Bedürfnisse, Anliegen und Fragen der Kinder müssen aufgegriffen und unfaires Verhalten thematisiert werden. Werden etwa Kinder vom Spiel ausgeschlossen, weil sie zu dick sind, anders riechen und anders aussehen oder ein bestimmtes Geschlecht haben, so darf dies auf keinen Fall geduldet werden und muss mit den Kindern in einer altersgerechten Art und Weise besprochen werden. Denn über das unmittelbar erlebbare und beobachtbare Umfeld entwickeln junge Kinder ihr Verständnis von Gerechtigkeit, Fairness und Toleranz.

Eine Vorbildfunktion wahrnehmen

Erleben die Kinder einen wertschätzenden und fairen Umgang miteinander, so lernen sie, offen und ohne Angst mit Verschiedenheit umzugehen (Kron). Grundlegend dafür ist, dass sich die Erwachsenen ihrer Vorbildfunktion bewusst sind. Denn Kinder nehmen wahr, was von ihren Bezugspersonen als wertvoll und wichtig erachtet wird und was im Gegensatz dazu kaum Beachtung findet. Sie bemerken, wenn Erwachsene auf manche Fragen mit Unbehagen reagieren, wenn sie ausweichen, das Thema wechseln, es überhören oder ungehalten sind, und ziehen ihre Schlüsse daraus (Richter). So entwickeln sie ein Bild davon, was in ihrem Umfeld als normal und richtig gilt und was nicht. Sind die Bezugspersonen flexibel und offen, so erweitern Kinder ihren Horizont. Erfahren sie dagegen negative Informationen, Haltungen und Ängste in Bezug auf Menschen, die sich von ihnen und ihren Familien unterscheiden, so besteht die Gefahr, dass sie diese ebenfalls übernehmen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern und Betreuungspersonen in Kitas oder Spielgruppen sich ihrer eigenen Einstellungen und Vorurteile bewusst werden und diese kritisch reflektieren. Eine wertschätzende, offene Haltung ihres Umfelds für die Vielfalt in der Gesellschaft ist grundlegend, damit ein Kind Vielfalt als Normalität begreifen und neugierig auf andere zugehen kann (Uehlinger et al.).

Umgebung als Spiegel der Werte und Normen

Es sind aber nicht nur die Menschen, die einem jungen Kind Informationen darüber geben, was als normal und willkommen gilt. Auch die Umgebung, in der sich Kinder bewegen, ist ein Spiegel der Werte und Normen, die im Umfeld als wichtig und richtig erachtet werden. Es ist das Aussehen der Puppen, die Personen und ihre Handlungen in Bilderbüchern oder die Abbildungen und Fotos an den Wänden, welche dem Kind subtile Botschaften vermitteln. Nicht nur das Vorhandene, sondern auch das Fehlende gibt den Kindern Hinweise darauf, was als richtig oder falsch, wichtig oder unwichtig beurteilt wird (Richter). Wenn sich im Alltag des Kindes beispielsweise nur Informationen aus einer spezifischen Gruppe – zum Beispiel ausschliesslich weisse, mitteleuropäisch aussehende Puppen und Spielfiguren – finden, werden diese als «normal» angenommen. Hiervon Abweichendes stellt das Andere, Fremde dar (Focali). Bei der Auswahl von Bilderbüchern und Spiel-materialien muss mitbedacht werden, dass Kinder nur das kennenlernen können, was in ihrer Reichweite ist. Eine anregungsreiche, vielfältige Lernumgebung ermöglicht es den Kindern, neue Erfahrungen mit Verschiedenheit zu machen, und regt sie auf spielerische Weise dazu an, sich kreativ mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten auseinanderzusetzen.

Macht ein Kind schon in jungen Jahren positive Erfahrungen mit Vielfalt, lernt es, diese als selbstverständlich und bereichernd zu erleben und einen empathischen Umgang mit andern Menschen zu pflegen. Dazu braucht es Erwachsene, die seine Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden aufgreifen und beantworten, einen fairen, offenen Umgang miteinander vorleben und eine anregungsreiche, vielfältige Lernumgebung schaffen, in der sich das Kind wohl fühlt und breite Erfahrungen sammeln kann. So erhalten Kinder das nötige Rüstzeug, um in einer Gesellschaft voller individueller und kultureller Unterschiede erfolgreich handeln zu können und Vielfalt als Chance zu begreifen.

Bibliografie:

Focali, E.; Viernickel, S.; Völkel, P. (2009). Sprachen und Kulturen sichtbar machen. Interkulturelle Kompetenzen bei Kleinstkindern. Troisdorf: Bildungsverlag EINS.

Kron, M. (2011). Der pädagogische Umgang mit Heterogenität. Routine und Herausforderung. In E. Hammes-Di Berardo & S. A. Schreiner (Hrsg.), Diversität, Ressourcen und Herausforderung für die Pädagogik der frühen Kindheit. Berlin, Weimar: Verlag das netz.

Richter, S. (2014). Eine vorurteilsbewusste Lernumgebung gestalten. www.kita-fachtexte.de

Uehlinger, C.; Simoni, H., Ogay, T., Wetter, M. (2014). Fokuspublikation Integration: Aspekte und Bausteine qualitativ guter Integrationsarbeit in der Frühen Kindheit. Eine thematische Vertiefung des Orientierungsrahmens für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. Zofingen.

Weltzien, D. (2014). Eine inklusive Haltung entwickeln. In D. Weltzien & T. Albers (Hrsg.), Vielfalt und Inklusion, kindergarten heute (1/2014).

Wustmann Seiler, C. & Simoni, H. (2012). Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. Zürich.